Meine Merkliste
my.bionity.com  
Login  

Geschichte der Hirnforschung




Die Geschichte der Hirnforschung reicht von prähistorischen Zeiten bis zur Gegenwart. Auch wenn die meisten Erkenntnisse über das Gehirn, seinen Aufbau und seine Funktionsweise in den letzten 150 Jahren gewonnen wurden, so reichen die Anfänge der Hirnforschung weit zurück.

Inhaltsverzeichnis

Urgeschichte

  Aufgrund von Funden aus dem frühen Ägypten wissen wir, dass vor 5000 Jahren Menschen mit ersten operativen Eingriffen in das Zentralnervensystem begannen, wie an systematischen Schädelöffnungen (Trepanationen) an Schädeln dieser Zeit abzulesen ist. Etwa 70 Prozent der Schädel, die solche Merkmale aufweisen, zeigen Zeichen der Heilung und lassen daher auf eine erfolgreiche Anwendung der Technik schließen, da der Patient den Eingriff um Monate oder gar Jahre überlebt haben muss. Dies kann als Geburtsstunde der Neurochirurgie gelten, wenn nicht gar der Chirurgie im allgemeinen. Neolithische Trepanationen sind auch aus ganz Europa und Lateinamerika bekannt.

  Die guten Kenntnisse der Ägypter über das Gehirn und seine Funktion gehen auch aus dem überraschend systematisch und rational verfassten Papyrus Edwin Smith hervor. Diese Papyrus, das in Ägypten 1.700 vor Christus verfasst wurde, geht auf Schriften zurück, die bereits um 3.000 vor Christus existiert haben und damit als die ältesten medizinischen Dokumente der Menschheitsgeschichte gelten müssen[1]. Obwohl in dem Papyrus das Gehirn, seine Organisation in Gyri und Sulci, das Rückenmark, die Hirnhäute und die umgebenden Knochen beschrieben werden, erwähnt das Werk zu keinem Zeitpunkt das Wort Nerv. Dies ist ein Konzept, das den Ägyptern offenbar noch unbekannt war.

Antike

  Um 500 vor Christus identifiziert und präpariert Alkmaion von Kroton als erster den optischen Nerven und andere sensorische Nerven.[2] Alkmaion entwickelte die Vorstellung, dass Nerven hohl seien und ein Medium (kenon) umhüllten, das den Sinneseindruck zum Gehirn leitet. Dies wird von Hippokrates von Kos (460–379 v. Chr.) genauer ausgeführt. Anders als Aristoteles, der die Empfindungen dem Herzen zuordnete, sah Hippokrates das Gehirn als Sitz der Empfindung und Intelligenz und erkannte, dass Epilepsie eine Erkrankung des Gehirns und durch Reize auslösbar ist. Dem stimmte auch Herophilos von Chalkedon zu (um 325–255 v. Chr.), der allerdings nicht das Gehirn selbst, sondern die Hirnventrikel, die flüssigkeitsgefüllten Kammern des Gehirns, als den Sitz menschlicher Intelligenz ansah.[3] Erasistratos (um 305–250 v. Chr.) unterschied motorische und sensible Nerven und unternahm ebenso wie später Galen (um 129–216 n. Chr.) neurophysiologische Experimente wie z. B. Hirnschnitte und artifizielle Läsionen.

Galens Ventrikellehre

Im Anschluss an Herophilus konzentrierte sich Galens Arbeit dabei vor allem auf die liquorgefüllten Hirnkammern. Er studierte, wie sich Schnitte und Druck auf sie auswirken.[4] Galen glaubte, dass es eine Verbindung zwischen den (ihm leer erscheinenden) Räumen der Ventrikel und der Seele gebe. Er postuliert, dass sich in ihnen eine Substanz befinde, die der ätherischen Seele ähnlich sei und so als Mediator zwischen dem stofflichen Körper und der Seele dienen könne. Diese Substanz nannte Galen spiritus animalis (lat. „belebender Geist“), ein Konzept, dass die Sichtweise auf den Zusammenhang von Seele und Geist auf Jahrhunderte prägen sollte.[5] Die Seele konnte somit in den Ventrikeln auf den Körper wirken. Das Gehirn selbst wurde nur als Drüse betrachtet, dessen Aufgabe es war, den spiritus animale zu produzieren. Die Ventrikellehre blieb bis ins 18. Jahrhundert hinein vorherrschende Meinung. Allerdings bleibt festzuhalten, dass man nicht das Gehirn oder die Hirnkammern als Sitz der Intelligenz oder gar der Seele sah, sondern lediglich als den Ort, an dem die flüchtige Seele auf den Körper einwirken könne. Galens Theorie konnte so eine Brücke zwischen der Seele und dem Körper schlagen, und somit eine Lösung für das Leib-Seele-Problem anbieten, da sein spiritus animalis durchaus eine physische Substanz war und somit ein physiologisches Substrat für die Wirkung der Seele auf den Körper darstellen konnte (commercium mentis et corporis). Andererseits wurde das spiritus animalis als ätherische Substanz und somit als so flüchtig gedacht, dass man nicht damit rechnete, es je tatsächlich zu sehen oder nachweisen zu können.[6] Aus wissenschaftstheoretischer Sicht ist die Ventrikellehre somit kaum zu widerlegen beziehungsweise im Popperschen Sinne zu falsifizieren.[7] Es ist daher wenig verwunderlich, dass diese Theorie für lange Zeit unangefochten blieb.

Mittelalter

  Während im byzantinischen und arabischen Kulturraum die medizinische Forschung fortgesetzt wurde, fielen die Kenntnis der westeuropäischen Medizin und damit auch der Hirnforschung im Mittelalter hinter das Niveau der Antike zurück. Die wenige Forschung im europäischen Raum beschränkte sich hauptsächlich auf klösterliche Heilkräuterkunde, die wenig zur Hirnforschung beizutragen hatte. In der gleichen Zeit war die medizinische Forschung im arabischen Raum deutlich fortschrittlicher.[8] So untersuchte um 900 Abu Bakr Mohammad Ibn Zakariya al-Razi (Rhazes) das Gehirn anatomisch genauer und beschrieb sieben der zwölf Hirnnerven und 31 der aus dem Rückenmark entspringenden Spinalnerven in seinem Werk Kitab al-Hawi Fi Al Tibb (arab. Geheimnis der Geheimnisse).[9][10] Bereits 100 Jahre später beschrieb Abu l-Qasim az-Zahrawi (auch bekannt als Abulcasis oder Albucasis) bereits chirurgische Eingriffe zur Heilung neurologischer Erkrankungen des Zentralnervensystems.[11] Doch beschränkten sich Erkenntnisse in der islamischen Medizin keineswegs auf das Zentralnervensystem, sondern sie stellten auch funktionelle Vermutungen über das periphere Nervensystem auf, wie es Abu Ali al-Hasan Ibn Al-Haitham (Alhazen) um die Jahrtausendwende tat. Er verglich die Funktionsweise des Auges mit einem dem Photoapparat ähnlichen Gerät. Auch Abu Ali al-Husain ibn Sina-e Balkhi (Avicenna) beschrieb das Auge und die Prinzipien des Sehens in seinem Qanon (Kanon) [12] und Abu Ruh Muhammad ibn Mansur ibn abi 'Abdallah ibn Mansur al-Jamani (al-Jurjani) beschrieb 1088 in seinem Werk Nur al-ayun (Licht des Auges) mehrere Operationsverfahren am Auge.[13]

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die arabische Medizin bis in die Renaissance unangefochten die Erkenntnisse der Hirnforschung dominieren sollte und die heutige Neurochirurgie (wenn nicht gar die Chirurgie im allgemeinen) auf den Erkenntnissen aus dem arabischen Raum fußt. Aus dem europäischen Raum sind wenige Erkenntnisse bekannt. Einzig Albertus Magnus ist hier erwähnenswert, der um 1250 die Ventrikellehre weiter ausführte. Ähnlich einem römischen Brunnen fließt nach Albertus Magnus der spiritus animalis von einem Ventrikel in den nächsten und vermittelt so den Prozess von der Wahrnehmung über das Denken zur Erinnerung.

16. Jahrhundert

  Im 16. Jahrhundert gingen die meisten Impulse in der Hirnforschung von Italien aus. So stellte Leonardo da Vinci 1490 nach zahlreichen Sektionen als erster einen sagittalen Hirnschnitt dar, hielt die Zeichnung jedoch zunächst geheim.[14] Im Jahr 1504 fertigte er darüber hinaus Wachsausgüsse der Ventrikel des menschlichen Gehirns an, um ihre Form exakter zu studieren. Den ersten axialen Hirnschnitt zeichnete 1536 der deutsche Anatom Johann Dryander, allerdings noch nicht perspektivisch korrekt. Bedeutender ist die Arbeit von Andreas Vesalius (1514–1564), der in Padua für die damalige Zeit äußerst exakte anatomische Forschungen betrieb und mit seinen Werken Tabulae Anatomica und De humani corporis fabrica Grundlagen der (neuro-)anatomischen Forschung legte. Insbesondere fertigte Vesalius die ersten realistischen Hirnschnitte an, die zwei Jahrhunderte lang als Referenz galten und unterschied bereits zwischen Grauer und Weißer Substanz der Hirnrinde.[15] Außerdem beschrieb Vesalius Zirbeldrüse und Balken (Pons), die zu jener Zeit die einzig bekannten Strukturen des Gehirns waren, die nicht doppelt (also in jeder Hemisphäre einmal) vorkommen. Im 17. Jahrhundert wurde ihnen aus diesem Grund eine bedeutende Rolle im Leib-Seele Problem zugeschrieben.

Etwa 20 Jahre nach Vesalius' Werken erschien 1564 das deutlich detaillierte, allerdings auch spezialisiertere Werk De auditus organis von Bartolomeo Eustachi, das erstmals über Aufbau und mögliche Funktionsweise des akustischen Sinnesapparates Auskunft gab. Nach Eustachi ist bis heute die Eustachische Röhre benannt, die Ohr und Mundraum verbindet[16]. Eine Reihe weiterer Arbeiten zeugen von der aktiven Neuroanatomie-Forschung in Italien: Gabriele Falloppio beschrieb einige der Hirnnerven, konnte dabei jedoch nur wenig neue Erkenntnisse gegenüber den Arbeiten von Rhazes vorweisen[17]. 1564 fiel in einer Arbeit von Giulio Cesare Aranzi erstmals die Bezeichnung Hippocampus [18], und Constanzo Varolio benannte 1573 die von Vesalius bereits beschriebene Brücke (Pons Varolii).

17. Jahrhundert

  Den größten Einfluss auf die Hirnforschung hatte im 17. Jahrhundert wohl Descartes (1596–1650), der die strikte Zweiteilung von Körper und Seele postulierte. Körper und Seele bestehen seiner Meinung nach aus verschiedenen Substanzen, von denen die Geistige, die res cogitans immateriell ist. Die Interaktion von Körper und Geist findet seiner Ansicht nach in der Zirbeldrüse statt, die als Kontaktstelle zwischen Körper und Geist und verwendet die Orgel als Modell für die Hirnfunktion. Der Cartesianische Dualismus wurde in der Folgezeit äußerst einflussreich und die postulierte Zweiteilung alles Seienden in Materie und Geist wirkt sich bis heute auf die Hirnforschung aus, da sie heute nicht nur dem Verständnis des Laien entspricht, sondern auch Forscher Schwierigkeiten haben, sich von den tief verwurzelten cartesianischen Intuitionen zu befreien.[19]

  Weniger philosophisch, aber wissenschaftlich muss Thomas Willis (1621–1675) als herausragende Gestalt der Hirnforschung gesehen werden. Willis prägte den Begriff Neurologie und veröffentlichte 1664 sein Werk Cerebri anatome mit Zeichnungen von Christopher Wren. Es war die exakteste und genaueste verfügbare Beschreibung der Hirnanatomie und der cerebralen Blutgefäße. Ungleich Descartes sah Willis das Gehirn selbst als Sitz der geistigen Funktionen und verortete unter anderem das Gedächtnis in den Windungen der Großhirnrinde und die Vorstellungskraft in der weiße Substanz der Hemisphären. Auch Giovanni Alfonso Borelli argumentierte 1660 gegen den spiritus animalis und vermutete stattdessen die Existenz einer Flüssigkeit, des succus nerveus, die die Handlungen nach pneumatischen Prinzipien hervorrufen solle. Seiner Vorstellung nach wird der succus nerveus durch die hohlen Nerven in die Extremitäten gepresst, wo sie die Muskeln zum anschwellen bringen und so Handlungen hervorrufen.

Neben dem bahnbrechenden Werk von Willis wurden im 17. Jahrhundert noch weitere antatomische Entdeckungen gemacht. So beschrieb zum Beispiel Franciscus de la Boe Sylvius die noch heute nach ihm benannte große seitliche Fissur an der Hirnoberfläche (Fissura Sylvii) zwischen dem Scheitel- vom Schläfenlappen in der Großhirnrinde und untersuchte die Verbindung zwischen dem 3. und 4. Ventrikel (Aqueductus Sylvii).

18. Jahrhundert

Antoni van Leeuwenhoek entwickelte das schon seit über 100 Jahren bekannte Mikroskop weiter und erreichte bis dato unerreichte Vergrößerungen. Er wandt es erfolgreich an und verhalf dem Mikroskop zu seinem Siegeszug bei der Eroberung des Mikrokosmos. Unter anderem untersuchte er den Aufbau von Nerven genauer und beschrieb hohle Querschnitte.

Van Leeuwenhoeks Technik wurde unter anderem auch von Felice Fontana eingesetzt, der van Leeuwenhoeks Erkenntnisse widerlegte. Nachdem Alexander Monro in seinen Untersuchungen 1753 keine Hinweise auf hohle Nerven finden konnte, untersuchte Fontana die Axone der Nerven genauer unter dem Mikroskop und beschrieb einige Eigenschaften des Axoplasmas.

19. Jahrhundert

1800 bis 1850

    Im 19. Jahrhundert schritt die Hirnforschung vor allem anatomisch schnellen Schrittes voran. So entdeckte Felix Vicq d'Azyr 1805 den Nucleus ruber im Mittelhirn, eine wichtige Schaltstelle des Motorischen Systems und wenige Jahre darauf das Claustrum, dessen Funktion bis heute nicht vollständig geklärt ist.[20] 1811 erkannte Charles Bell den funktionellen Unterschied zwischen den aus dem Hinterhorn bzw. dem Vorderhorn des Rückenmarks austretenden Nerven (dorsale bzw. ventrale Rückenmarkswurzel). Während motorische Signale das Rückenmark über die Vorderhornwurzel verlassen, treten sensorische Signale ins Hinterhorn ein. Diese Entdeckung wurde praktisch zeitgleich von François Magendie gemacht und geht bis heute gültig als Bell-Magendie-Gesetz in die Lehrbücher ein. Die Anatomie des Rückenmarks wurde von Benedikt Stilling (????-????) weiter systematisch untersucht, der dazu das Rückenmark detailgetreu in einer Serie von Schnitten untersuchte und dabei den Verlauf verschiedener Nervenbündel nachverfolgte. Mit der Unterscheidung zwischen medialem und lateralem Corpus geniculatum des Thalamus legt Friedrich Burdach (????-????) 1822 einen weiteren Grundstein in der Erkenntnis des sensorischen Apparates, da sich diese beiden Strukturen als die wichtigsten Umschaltstationen des Hör- und Gesichssinnes entpuppen sollten.

Wichtiger als die Entdeckungen makroskopischer Strukturen waren allerdings die Entdeckungen im kleinen. So identifizierte Gabriel Gustav Valentin (????-????) 1836 erstmals den Kern und Kernkörperchen von Nervenzellen. Diese Entdeckung der legt den Grundstein der 1839 von Theodor Schwann (????-????) und Matthias Schleiden (????-????) veröffentlichten Zelltheorie, die sich allerdings noch für den Rest des Jahrhunderts nicht durchsetzen können wird. Schwann identifiziert darüber hinaus noch die Zellen, die im peripheren Nervensystem die Myelinscheiden um die Nerven bilden (Schwann'sche Zellen). Ebenfalls in den 1830er Jahren beschrieb Robert Remak (????-????) die unterschiedlichen Fastertypen von myelinisierten und unmyelinisierten Nervenfasern und vermutete, dass Nervenfasern aus Nervenzellkörpern entspringen. Jan Evangelista Purkinje (1787–1869) beschreibt in denselben Jahren ebenfalls große Neurone im Kleinhirn (die sogenannten Purkinjezellen). Auch Purkinje dokumentierte die zelluläre Natur der Gewebeschichtung. Dennoch sollte sich bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts die Diskussion fortsetzen, ob das Gehirn aus einzelnen Zellen oder aber, wie bis dahin überwiegend angenommen aus einer durchgehenden (anastomosischen) Gewebemasse (Synzytium) besteht. Mangelnde Qualität der Mikroskope und die schlechten Färbemethoden verhinderten eine endgültige Antwort auf diese Frage, auch wenn im 19. Jahrhundert kontinuierliche Fortschritte in der präparation von Hirngewebe zu mikroskopischen Studien gemacht wurden. So verwendet Adolph Hannover (????-????) Chromsäure und Johann Christian Reil (????-????) Alkohol um Hirngewebe zu härten und somit dünnere Schnitte zum Mikroskopieren schneiden zu können.

Jules Gabriel Francois Baillarger (????-????) beschreibt 1840 erstmals den bis heute gültigen 6-schichtigen Aufbau der Grauen Substanz der Großhirnrinde und identifiziert ein horizontales Netz myelinisierter Nervenfasern auf Höhe der Schicht 4 (Baillarger-Streifen). Die Graue Substanz wird damit funktionell differenziert und Baillarger stellt daraufwin weitergehende Überlegungen zum Zusammenhang von Grauer und Weißer Substanz der Hirnrinde an. Ein weiterer Eckstein der Forschung stellt die im Jahre 1869 von Alexander Ecker (1816–1887) vorgeschlagene und noch heute gültige Terminologie der Hirnlappen und -windungen dar.

Ebenfalls große Fortschritte werden im 19. Jahrhundert in der Narkose gemacht und so wird 1803 Morphium als Schmerzmittel von Friedrich Serturner (????-????) isoliert. 1842 wird Äther von Crawford W. Long zuerst als Narkotikum verwendet, 1844 Lachgas von Horace Wells eingeführt und 1847 Chloroform von James Young Simpson erfolgreich verwendet.

1850-1900

  Franz Josef Gall (1758–1828) war der Begründer der Phrenologie (Schädelkartierung) und damit der Lokalisationstheorie, die besagt, dass bestimmte Vermögen in bestimmten Bereichen des Gehirns beheimatet sind. Nach Galls Theorie konnte das Gehirn ähnlich einem Muskel trainiert werden und die Verwendung bestimmter Bereiche hätte dadurch eine Vergrößerung des Gehirns in diesem Bereich zur Folge, der sich am Schädelknochen ablesen lässt. Auch wenn die von Gall postulierten Vermögen (Religiosität, Brutalität) nach heutigen Maßstäben abenteuerlich anmuten und sich die Vorstellung, das Gehirn könne die Schädelform beeinflussen, mittlerweile als falsch erwiesen hat (mit der Ausnahme des Hydrocephalus), hat Gall mit der Lokalisationstheorie die Sichtweise auf das Gehirn entscheidend geprägt. Ihm gegenüber standen die Anhänger der holistischen Theorie wie Marie Jean Pierre Flourens (1794–1867), der als führender Wissenschaftler der Gegenbewegung zu Galls Lokalisationstheorie zu gelten hat. Die holistische Theorie ging davon aus, dass alle Sinneseindrücke und Vermögen auf das gesamte Gehirn verteilt sind.

Beide Theorien erwiesen sich als falsch. Galls Theorie ging von falschen Vermögen aus, Flourens Theorie konnte spätestens durch die Studien von Paul Broca (1824–1880) und Carl Wernicke (1848–1905) widerlegt werden. Broca behandelte 1861 einen Patienten, der nach einem Schlaganfall Sprache zwar sehr wohl verstehen konnte, sich aber unfähig zeigte, sich selbst sprachlich zu äußern. Damit konnte Broca das motorische Sprachzentrum im linken Frontallappen lokalisieren, das bis heute Broca-Areal heißt. Wernicke dagegen untersuchte 1874 ebenfalls einen Schlaganfallpatienten, der zwar flüssig sprechen konnte, aber keine sprachlichen Äußerungen verstand. Wernicke konnte somit das sensorische Sprachzentrum im linken Temporallappen lokalisieren, das seither Wernicke-Areal genannt wird.

Nach diesen Erkenntnissen und dem damit vorläufigen Siegeszug der Lokalisationstheorie begann man gezielt Hirnareale bei Tieren zu entfernen oder mit ihnen zu interferieren, wie es Gustav Fritsch und Eduard Hitzig mittels elektrischer Stimulation getan haben, um ihre Rolle zu studieren, doch die wissenschaftlichen Möglichkeiten blieben begrenzt. Was fehlte, war ein einheitlicher anatomischer Atlas, auf den man sich beziehen konnte, wenn man von Arealen sprach.

  Zum Ende des 19. und zum Beginn des 20. Jahrhunderts setzte sich die Diskussion fort, ob das Gehirn aus einzelnen Zellen oder aber aus einem durchgehenden Synzytium besteht. Während Camillo Golgi letzterer Theorie anhing, konnte Ramon y Cajal eine von Golgi entwickelte Färbemethode verwenden, um das Gegenteil zu beweisen, wofür beide 1906 den Nobelpreis erhielten [21]. Es sei nebenbei erwähnt, dass auch Freud lange Zeit der Synzytium-Theorie anhing.

  Neben der anatomischen Forschung darf auch die systematische und empirische Erforschung von Reiz-Erlebnis-Zusammenhängen, die Psychophysik, nicht unerwähnt bleiben. Bis heute stellt die Forschung von Ernst Heinrich Weber (1795–1878) und Gustav Theodor Fechner (1801–1887) die Basis für die neurowissenschaftliche Untersuchung von Sinneswahrnehmung dar. Ohne ihre bahnbrechende Forschung wäre ein Studium der Wechselwirkung zwischen objektiv messbaren physischen Prozessen und Reizstärken und subjektivem mentalem Erleben (äußere Psychophysik) unmöglich. Da die zugrundeliegenden neuronalen Prozesse in ihrer Stärke zumeist eher mit dem subjektiven Empfinden, als dem physischen Reiz ähneln, ist die Kenntnis dieser Zusammenhänge entscheidend für das Auffinden und die Untersuchung neuronaler Korrelate der Wahrnehmung (Physiologie und innere Psychophysik).

20. Jahrhundert

1900 bis 1950

 

Um die Jahrhundertwende legte Sir Charles Sherrington einige Grundsteine der modernen Neurophysiologie. Zunächst untersuchte er die Funktionsweise einzelner Nervenzellen und prägte 1887 den Begriff Synapse für die Kontaktstelle zwischen zwei Neuronen. 1891 fand Sherrington heraus, dass der Patellarsehnenreflex durch ein Zusammenspiel von Erregung eines Agonisten und Hemmung eines Antagonisten zustande kommt. Seine genauen Untersuchungen über die neuronalen Grundlagen des Reflexes widerlegten die bis dahin geläufige Vorstellung, das Rückenmark verfüge über eine eigene Seele.[22] Darüber hinaus gelang Sherrington 1902 gemeinsam mit A. S. F. Grünbaum eine genaue Lokalisierung des Motorcortex. 1932 erhielt er für seine Forschung zusammen mit Lord Edgar Douglas Adrian den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin. Adrian hatte gezeigt, dass Aktionspotentiale dem „Alles-oder-Nichts-Gesetz“ folgen und dass die Intensität eines Reizes daher durch die Frequenz des Aktionspotentials vermittelt wird.

Ebenfalls um die Jahrhundertwende gründete Oskar Vogt in Berlin das erste Hirnforschungsinstitut der Welt[23]: Es begann als privat betriebene „Neurologische Zentralstation“ in einem Mietshaus, wurde 1902 der Universität angegliedert und 1915 zum Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung. Zusammen mit seiner Frau, der französischen Neurologin Cécile Vogt (geb. Mugnier) hatte er es sich zum Ziel gesetzt, Zusammenhänge zwischen seelischen Phänomenen und hirnanatomischen Strukturen zu finden. Teil dieses Projekts war die Arbeit von Korbinian Brodmann, der als Mitarbeiter des Instituts 1909 einen Hirnatlas publizierte, in dem er die Großhirnrinde in 52 Areale unterteilte. Grundlage für die Einteilung waren histologische Untersuchungen, bei denen er Hirnschnitte mit einer von Franz Nissl entwickelten Methode anfärbte und unter dem Mikroskop Unterschiede in Form und Schichtdicke der Zellen vorfand. Die Vogts konzentrierten sich währenddessen auf die Nervenverbindungen zwischen einzelnen Arealen. Ihre Arbeitshypothese war, dass Unterschiede in der Zellarchitektur auf Hirnzentren mit unterschiedlicher Funktion hindeuten. In Tierexperimenten gelang es ihnen jedoch nicht, den von Brodmann gefundenen Arealen konkrete Funktionen zuzuordnen. In der weiteren Forschung stellte sich heraus, dass eine solche Zuordnung tatsächlich nur sehr begrenzt möglich ist, dennoch wurden die Brodmann-Areale weiter verfeinert und sie werden noch heute verwendet.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde Hirnforschung auch zu einem Politikum. Zum einen folgten Vorstellungen von der Organisation des Gehirns häufig der jeweils favorisierten Gesellschaftsordnung: So stellte Paul Flechsig sich das Großhirn nach dem Vorbild der Monarchie in drei strikte Hierarchiestufen unterteilt vor, während Theodor Meynert sowie Oskar und Cécile Vogt ein eher republikanisches Modell annahmen, nach dem die Funktion des Hirns auf einem gleichberechtigten Zusammenspiel der einzelnen Zentren basiert.[24] Andererseits wurde die Hirnforschung zu einem Mittel politischer Propaganda: So wurde Oskar Vogt 1925 von der Sowjetunion eingeladen, in Moskau ein Staatsinstitut für Hirnforschung aufzubauen und dort das Gehirn des jüngst verstorbenen Lenin zu sezieren. Als er 1929 bei einem Vortrag seine Ergebnisse zusammenfasste, kam er zum Schluss, dass der „hirnanatomische Befund“ Lenin als „Assoziationsathleten“ ausweise [25] – eine nach heutigen Maßstäben gewagte Folgerung, die ihm bis heute Spott einbringt.

Weitaus menschenverachtendere Folgen hatte die Zusammenarbeit einiger Hirnforscher mit den Machthabern während der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland. Bereits 1920 hatte der Psychiater Alfred Hoche zusammen mit dem Strafrechtler Karl Binding den Begriff des „lebensunwerten Lebens“ geprägt und öffentlich für die Tötung von Patienten plädiert, die unheilbar psychisch krank waren. In seiner Nachfolge halfen eine Reihe deutscher Ärzte und Hirnforscher mit, die so genannte Aktion T4 der Nationalsozialisten, in deren Rahmen unter der euphemistischen Bezeichnung „Euthanasie“ systematisch Behinderte und Psychiatriepatienten ermordert wurden, (pseudo-)wissenschaftlich zu legitimieren und durchzuführen.[26]

Oskar Vogt wurde 1935 die Leitung des Kaiser-Wilhelm-Instituts entzogen, da er gegenüber Juden unvoreingenommen war, Ausländer beschäftigte und nach Ansicht der Gestapo nicht hinreichend gegen „kommunistische Propaganda“ innerhalb seines Instituts vorgegangen war. Nach einer Übergangszeit, in der er als kommissarischer Direktor fungierte, übernahm 1937 Hugo Spatz in enger Zusammenarbeit mit Julius Hallervorden das Institut. Die beiden waren offiziell über die Aktion T4 informiert und erhielten daraus auch eine große Anzahl von Gehirnen für ihre Forschung. Hallervorden war in mindestens einem Fall anwesend, als in Görden Kinder ermordet wurden, deren Gehirne daraufhin in seiner Abteilung seziert wurden. Beide Wissenschaftler hatten bis lange in die Nachkriegszeit hinein führende Positionen am Max-Planck-Institut für Hirnforschung inne, der Nachfolgeorganisation des Kaiser-Wilhelm-Instituts, und forschten teilweise weiter an den während des Kriegs „gewonnenen“ Materialien. Eine aktive Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels der Hirnforschung in Deutschland setzte erst um die Jahrtausendwende ein. Zeugnis davon sind unter anderem das im Jahr 2000 eingeweihte Mahnmal am Max-Delbrück-Centrum in Berlin[27] und die 2001 eingerichtete Sammlung Prinzhorn an der Universität Heidelberg.

Julius Wagner-Jauregg

Kurt Goldstein kritisiert die starre topographische Einteilung des Hirns in Funktionszentren (1934).

1949 wurde der Nobelpreis an zwei Forscher vergeben, denen es gelungen war, bestimmte Funktionen im Hirn zu lokalisieren. [28] Der schweizer Physiologe Walter Rudolf Hess hatte die Auswirkungen gezielter elektrischer Reizungen im Zwischenhirn von Versuchstieren beobachtet und aufgrund dieser Experimente eine detaillierte funktionale Karte des Zwischenhirns geschaffen. Der zweite Preisträger war der portugiesische Neurologe António Caetano de Abreu Freire Egas Moniz, der die Leukotomie (auch „Lobotomie“ genannt) zur Behandlung psychiatrischer Krankheiten eingeführt hatte. Dieses Operationsverfahren, bei dem Teile des Gehirngewebes des Patienten durchtrennt wurden, begründete die Psychochirurgie. Aufgrund der drastischen Nebenwirkungen kam es jedoch nach Aufkommen der Neuroleptika schon bald kaum noch zum Einsatz und die Vergabe des Nobelpreises an ihn gilt heute als umstrittene Entscheidung.

1950-2000

Noch Anfang des 20. Jahrhunderts waren die Hirnforscher im Wesentlichen darauf beschränkt, die Gehirne von Verstorbenen zu sezieren, Patienten mit Hirnschäden zu untersuchen, oder an freigelegten Hirnen von Versuchstieren zu experimentieren. Erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts kamen Methoden auf, die es ermöglichten am lebenden, gesunden Hirn Untersuchungen anzustellen, ohne dazu einen Eingriff vornehmen zu müssen. Erst diese neuen Methoden boten den Schlüssel zu vielen der heute als selbstverständlich betrachteten Erkenntnisse über das Gehirn. Die erste dieser Schlüsselmethoden war die Elektroenzephalografie (EEG), die es erlaubt, Spannungsschwankungen an der Kopfoberfläche aufzuzeichnen. Diese lassen wiederum Rückschlüsse auf die elektrische Aktivität des Gehirns zu.

    Bereits 1875 hatte Richard Caton eine „kontinuierliche spontane elektrische Aktivität“ der Hirnoberfläche beschrieben, die er jedoch noch auf den freigelegten Hirnen von Kaninchen und Affen ableitete. Das erste aufgezeichnete EEG wurde 1912 von Vladimir Vladimirovich Pravdich-Neminsky veröffentlicht, der es noch als „Electrocerebrogram“ bezeichnete. [29] Untrennbar mit dem Verfahren verbunden blieb jedoch der Name Hans Bergers, der 1924 als erster ein menschliches EEG aufzeichnete und seine Ergebnisse 1929 veröffentlichte. In den folgenden Jahren entwickelten zahlreiche Forscher das Verfahren weiter, routinemäßig kam es jedoch erst ab den 50er Jahren zum Einsatz. Ein wichtiger Meilenstein für die Vergleichbarkeit der erzielten Ergebnisse war die Standardisierung des 10-20-Systems zur Anordnung der EEG-Elektroden, die unter Leitung von Herbert Jasper erfolgte.

Ein weiterer Meilenstein der modernen Neurowissenschaft wurde zu Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Wilder Penfield und Theodore Rasmussen veröffentlicht. Mittels Elektrostimulation am offenen Gehirn wacher Patienten versuchten Penfield und Rasmussen epileptische Zentren ausfindig zu machen, und lösten statt dessen aber komplexe Sinneseindrücke oder spontane Bewegungen in ihren Patienten aus[30]. Ihre systematischen Erforschung der Beziehung der Stimulationsorte mit den Bewegungen und Sinneseindrücken enthüllte ein verzerrtes Abbild der Oberfläche des Körpers, den Homunkulus und damit ein fundamentales Prinzip der Hirnorganisation, die Somatotopie.

 

In den 1950er Jahren wurde schließlich aufgeklärt, durch welche Mechanismen elektrischen Reize sich im Nervensystem fortpflanzen: Den Engländern Alan Lloyd Hodgkin und Andrew Fielding Huxley war bei Experimenten mit Riesenaxonen von Tintenfischen bereits 1939 aufgefallen, dass das Membranpotential einer Nervenzelle sich im Verlauf eines Aktionspotentials nicht nur ausgleicht, sondern umkehrt: Als sie ihre Forschung nach dem zweiten Weltkrieg fortsetzten, konnten sie zeigen, dass dieser Effekt auf einer spannungsabhängigen Durchlässigkeit von Ionenkanälen für Natrium- und Kalium-Ionen beruht. Aus dieser Einsicht entwickelten sie das Hodgkin-Huxley-Modell, das eine realitätsnahe Simulation von Aktionspotentialen am Computer ermöglicht. Der Australier John Carew Eccles, ein Schüler Sherringtons, konnte schließlich aufdecken, dass die Übertragung der elektrischen Reize über den synaptischen Spalt hinweg durch Neurotransmitter, also auf chemischem Wege, geschieht und dass es eine Eigenschaft der Synapse ist, ob sie auf die nachgeschaltete Zelle erregend (exzitatorisch) oder hemmend (inhibitorisch) wirkt. 1963 erhielten die drei Forscher für diese Erkenntnisse den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin.[31]

Zusammen mit dem Philosophen Karl Popper entwickelte Eccles in dem Buch The Self and its Brain (deutsch: Das Ich und sein Gehirn) in den 1970er Jahren eine detaillierte Theorie über die Interaktion zwischen Gehirn und einem immateriellen Geist. Er vermutete, dass kleinste Prozesse auf Ebene der Quantenphysik hinreichend seien, um die Ausschüttung von Neurotransmittern zu beeinflussen und schloss, dass die Wirkung eines energie- und masselosen Geistes auf das Gehirn somit durch eine Beeinflussung der quantenmechanischen Wahrscheinlichkeitsfelder erklärbar werde. Diese Theorie, aus der Eccles auch Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod schöpfte, gilt heute als prominentes Beispiel dafür, wie stark das Denken viele Hirnforscher noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von religiösen Überzeugungen und von einem interaktionistischen Dualismus im Sinne Descartes geprägt war.[32]

Ab 1953 untersuchte der amerikanische Neurobiologe Roger Sperry die funktionale Spezialisierung der beiden Hälften des Großhirns. Zunächst experimentierte er mit Katzen und Affen, denen er zuvor den Balken durchtrennt hatte, der die beiden Hirnhälften verbindet. Da seine Versuchstiere sich von der Operation erholten, wagten die Neurochirurgen Philip Vogel und Joseph Bogen 1961 einen entsprechenden Eingriff bei einem Kriegsveteran, der unter schwerer und unkontrollierbarer Epilepsie litt. Nachdem diese Behandlungmethode erfolgreich war, wurde sie auch bei weiteren Patienten eingesetzt und Sperry weitete seine Experimente auf diese so genannten Split-Brain-Patienten aus. Seit dem 19. Jahrhundert war über die funktionale Aufteilung der beiden Gehirnhälften spekuliert worden. Sperry erhielt nun erstmals experimentell abgesicherte Ergebnisse, die viele der bestehenden Überzeugungen widerlegten: Während die rechte Hirnhälfte etwa zuvor als generell unterlegen und als nicht bewusstseinsfähig galt, konnte Sperry zeigen, dass sie zu eigenständigen Leistungen fähig und der linken Hälfte in bestimmten Aufgaben überlegen war, etwa bei der Raumerfassung oder dem Erkennen von Mustern und Stimmen. Für seine Erkenntnisse erhielt er 1981 die Hälfte des Medizin-Nobelpreises.

Die zweite Hälfte des Nobelpreises teilten sich in jenem Jahr Torsten N. Wiesel und David H. Hubel, die mit Einzelzellableitungen zur Aufklärung der Funktionsweise der Sehrinde beigetragen hatten.[33] [34]


  Mit den bildgebenden Verfahren wurde es möglich, Schnittbilder des lebenden Hirns anzufertigen. Aufgrund ihrer guten Eignung zur Darstellung von Weichgewebe und der geringen Belastung des Probanden steht hierbei besonders die in den 1970er Jahren entwickelte Magnetresonanztomographie (MRT) im Vordergrund, für die Paul Christian Lauterbur und Peter Mansfield 2003 den Nobelpreis erhielten. Zu einer zentralen Methode für die Hirnforschung entwickelte sich insbesondere die Funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT), mit der indirekt eine Aktivierung von Hirnzentren sichtbar gemacht werden kann. Bereits 1890 hatten C.S. Roy und C.S. Sherrington herausgefunden, dass neuronale Aktivität mit einer lokal verstärkten Durchblutung des entsprechenden Hirngewebes einhergeht. 1990 gelang es Seiji Ogawa gemeinsam mit Tso-Ming Lee und weiteren Kollegen in den Bell Laboratories, sich den seit 1935 bekannten Unterschied in den magnetischen Eigenschaften von sauerstoffreichem und sauerstoffarmem Blut („BOLD-Effekt“) zunutze zu machen, um diesen Anstieg in den MRT-Bildern sichtbar zu machen.

Auch das Diffusionsverhalten lässt sich durch Magnetresonanz messen (in der Medizin erstmals 1985 von Denis LeBihan) und ermöglicht Rückschlüsse auf die Lage und Ausrichtung von Nervenbündeln im Hirn. Das bis heute gebräuchlichste Modell hierfür, die Diffusions-Tensor-Bildgebung, wurde 1994 von Peter Basser eingeführt. In der praktischen Forschung spielt dieses Verfahren im Vergleich zur fMRT bislang jedoch eine untergeordnete Rolle.

Messungen mittels MRT oder EEG ermöglichen es nur, Korrelationen zwischen kognitiven Funktionen und bestimmten Hirnaktivierungen herzustellen. Um Kausalzusammenhänge zwischen Änderungen des Hirnzustands und Hirnfunktionen erforschen zu können, ist es dagegen erforderlich, das Hirn gezielt zu manipulieren und die Folgen zu beobachten. Eine nichtinvasive Möglichkeit hierzu ist die Stimulation durch elektrische Ströme, die durch starke Magnetfelder induziert werden können. Bereits 1894 berichtete Jacques-Arsène d'Arsonval von Experimenten, bei denen er den Kopf eines Probanden vollständig mit einer Spule umgab, durch die ein starker Wechselstrom floss und so unter anderem Lichtempfindungen, so genannte Phosphene, auslöste.[35] Auch wenn heute umstritten ist, ob d'Arsonval tatsächlich das Hirn oder nur Sehnerv und Retina seiner Probanden stimuliert hat, stellen seine Experimente den ersten Versuch dar, das Hirn durch äußere Magnetfelder zu beeinflussen. In ihrer heutigen Form wurde die Transkranielle Magnetstimulation (TMS) zuerst 1985 von Anthony Barker beschrieben. Er stimulierte mit wesentlich kleineren Magnetspulen begrenzte Regionen des Kortex. Dies führt im Regelfall zu einer vorübergehenden Störung des betroffenen Hirnareals und geht mit funktionalen Beeinträchtigungen des Probanden einher, aus deren Art auf die Funktion des Hirnareals geschlossen werden kann[36].

Im Jahre 1976 entwickeln Erwin Neher and Bert Sakmann die Patch-Clamp-Technik, die es erlaubt, die Dynamik einzelner Ionenkanäle zu studieren, wofür sie 1991 den Nobelpreis für Medizin erhielten.

Eric Kandel, Paul Greengard und Arvid Carlsson erhielten 2000 den Nobelpreis „für ihre Entdeckungen zur Signalübertragung im Nervensystem“.

Einer der Aufsehen erregendsten Funde wurde 1996 von Giacomo Rizzolatti, Leonardo Fogassi und Vittorio Gallese gemacht, die im prämotorischen Cortex von Makaken Zellen fanden, die sowohl dann aktiv wurden, wenn der Affe eine bestimmte Handlung durchführte, als auch, wenn der Affe den Experimentator dabei beobachtete, wenn dieser dieselbe Handlung ausführte[37]. Mit dieser Fähigkeit die Handlung anderer Individuen zu spiegeln sind diese sogenannten Spiegelneurone zur Grundlage einer ganzen Reihe von Theorien geworden, die vor allem die kulturellen Errungenschaften des Menschen (Sprache, Ethik) zu erklären suchen.

Stand zum Beginn des 21. Jahrhunderts

Im noch jungen 21. Jahrhundert entwickelt sich die Neurowissenschaft vor allem methodologisch weiter. So wird die Forschung an intelligenter Kontrastagenten für die funktionelle Kernspintomographie vorangetrieben, um die Konzentration (und deren Änderung) beliebiger Substanzen im Gehirn messbar zu machen. Diese Stoffe sollen im Prinzip die Anwesenheit eines bestimmten Stoffes durch eine im Kernspintomophraphen messbare Änderung ihrer magnetischen Eigenschaften anzeigen. Damit könnte die Ausschüttung von Neurotransmittern oder Neuropeptiden im aktiven, lebendigen Gehirn praktisch in Echtzeit verfolgt werden.

Eine weitere Forschungsrichtung ist das funktionelle Studium des Neocortex auf Zell- und Synapsenebene. Für dieses sogenannten Blue Brain Projekt ist am Brain Mind Institut in Lausanne einer der 100 schnellsten Computer weltweit, ein Blue Gene Supercomputer mit 360 Teraflops angeschafft worden, um die gewonnenen Erkenntnisse in einem gigantischen Computermodell zusammenzufassen[38]. Durch das exakte und systematische Studium einer einzelnen sogenannten kortikalen Säule von 2 mm Höhe und einem Durchmesser von 0,5 mm und seinen 10.000 Nervenzellen und ungefähr 108 Synapsen hofft man die Funktion der verschiedenen Transmitter-, Rezeptor-, Synapsen und Zelltypen in den Mikroschaltkreisen des Cortex auf die Spur zu kommen, bevor das Modell auf den gesamten Cortex (mit seinen etwa 1 Mio. Säulen) ausgeweitet wird. Diese Forschungsrichtung profitiert auch von der Entwicklung neuer Mikroskopiertechniken, die echte 3D-Aufnahmen ganzer Gehirne erlaubt[39].

Ein noch uneinheitliches und umstrittenes Gebiet innerhalb der Hirnforschung ist die Suche nach einem Neuronalen Korrelat des Bewußtseins. Obwohl der Physiker und Biochemiker Francis Crick 1990 behauptete, dass diese Frage bereits sinnvoll bearbeitet werden könne und er zusammen mit Christof Koch eine entsprechende Theorie vorgestellt hat, existiert bis heute (Stand: 2007) kein allgemein akzeptiertes Forschungsprogramm, um dieser Frage nachzugehen. Manche Philosophen, wie etwa Thomas Metzinger, bearbeiten Fragestellungen, die sie als notwendige Voraussetzung für naturwissenschaftliche Forschung in diesem Gebiet betrachten.

Dennoch ist dieses Thema zu Beginn des 21. Jahrhunderts insbesondere in der Presse und in populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen präsent und wird unter anderem zum Anlass genommen, die Frage nach der Vereinbarkeit von freiem Willen und Determinismus neu zu stellen. In der öffentlichen Debatte äußern einige Hirnforscher, darunter Wolf Singer und Gerhard Roth, die Vermutung, dass zukünftige Forschungsergebnisse unser Menschenbild und unser Rechtssystem verändern werden. [40] Andere Autoren, darunter Julian Nida-Rümelin, Jürgen Habermas und Michael Pauen, halten es dagegen aufgrund historischer und systematischer Erwägungen für unwahrscheinlich, dass die Hirnforschung in diesen Bereichen einen grundlegenden Wandel verursachen wird. [41]

Literatur

Allgemeine Darstellungen
  • Erhard Oeser: Geschichte der Hirnforschung; Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 2002
  • Michael Hagner: Homo cerebralis, Insel Verlag, Frankfurt 2000
  • Olaf Breidbach: Die Materialisierung des Ichs, Suhrkamp, Frankfurt, 1997
  • Kandel, E. R. & Squire, L. R., Neuroscience: Breaking Down Scientific Barriers to the Study of Brain and Mind, In: Science, 290:1113–1120, 2000.
  • Peter Düweke: Kleine Geschichte der Hirnforschung. Von Descartes bis Eccles. Becksche Reihe, 2001 ISBN 3-406-45945-5
Sekundärtexte
  • Kandel, Eric R.; Schwartz, James H.; Jessel, Thomas M.: Principles of Neural Science. McGraw-Hill, New York, 2000 4. Edition ISBN 0-8385-7701-6, S. 5–18)

Quellen

  • Geschichte der Gehirnforschung
  • Milestones in Neuroscience Research

Einzelnachweise

  1. Breasted, J. H.: The Edwin Smith surgical papyrus. Chicago: Univ. Chicago Press, 1980, 2 vols. S. xvi, 6, 480–485, 487–489, 446–448, 451–454, 466; 2: S. XVII, XVIIA)
  2. Lloyd, 1975.: Alcmeon and the early history of dissection , Sudhoffs Archiv, 59: 113–47
  3. Diels, H.; W. Kranz. Die Fragmente der Vorsokratiker. 6th ed., Band 1, 210–216. Dublin, Ireland: Weidmann, 1952.
  4. Goss CM: On anatomy of nerves by Galen of Pergamon Am J Anat. 1966 Mar; 118(2): 327–35.
  5. Mansfeld, J. Alcmaeon: 'Physikos' or Physician. In Kephalaion: Studies in Greek Philosophy and its continuation offered to Professor C. J. de Vogel, J. Mansfeld & L. M. de Rijk (Hrsg), 26–38. Assen, Netherlands: Van Gorcum, 1975.
  6. Michael Hagner: Homo cerebralis, Insel Verlag, Frankfurt 2000, S. 29
  7. Popper, Karl: Logik der Forschung. 10. Auflage, Mohr Siebeck, 2001
  8. Savage-Smith E.: The practice of surgery in Islamic lands: myth and reality. Soc Hist Med. 13(2): 307–21. 2000
  9. http://juliusruska.digilibrary.de/q231/q231.html
  10. Richter-Bernburg L. Abu Bakr Muhammad al-Razi's (Rhazes) medical works. Med Secoli. 6(2): 377–92, 1994
  11. Haddad FS. Surgical firsts in Arabic medical literature. Stud Hist Med Sci. 10–11:95–103. 1986–1987
  12. Sarrafzadeh AS, Sarafian N, von Gladiss A, Unterberg AW, Lanksch WR. Ibn Sina (Avicenna). Historical note. Neurosurg Focus. 11(2): E5. 2001
  13. Hirschberg J.: Geschichte der Augenheilkunde, vol. 3, Leipzig 1915.
  14. Jean C. Tamraz und Youssef G. Comair: Atlas of Regional Anatomy of the Brain Using MRI. Springer, 2006, Seite 1.
  15. Jean C. Tamraz und Youssef G. Comair: Atlas of Regional Anatomy of the Brain Using MRI. Springer, 2006, Seite 3.
  16. Fahrer M.: Bartholomeo Eustachio--the third man: Eustachius published by Albinus ANZ J Surg. 73(7): 523–8; 2003
  17. Kothary PC, Kothary SP. Gabriele Fallopio. Int Surg. 60(2): 80–1. 1975
  18. DALL'OSSO E. A contribution to the scientific thought of Giulio Cesare Aranzio: his surgical work. 1956 61(6): 754–67. (auf italienisch)
  19. Antonio R. Damasio. Descartes' Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. List, 1997.
  20. Francis Crick & Christof Koch (2005): What is the function of the claustrum? Phil. Trans. R. Soc. Lond. B. Biol. Sci. 360, nr. 1458, pp. 1271–1279
  21. Ramón y Cajal, Nobel Lectures: Physiology or Medicine (1901–1921) (Elsevier, Amsterdam, 1967), pp. 220–253.
  22. M. R. Bennett und P. M. S. Hacker: Philosophical Foundations of Neuroscience. Blackwell Publishing, 2003, S. 41. ISBN 1-4051-0838-X
  23. Wolf Singer: Auf dem Weg nach innen. 50 Jahre Hirnforschung in der Max-Planck-Gesellschaft. In: Der Beobachter im Gehirn. Essays zur Hirnforschung. Suhrkamp, 2002, S. 12. ISBN 3-518-29171-8
  24. Peter Düweke, a. a. O., S. 124
  25. Peter Düweke, a.a. O., S. 116
  26. Hans-Walter Schmuhl: Medizin in der NS-Zeit: Hirnforschung und Krankenmord. In: Deutsches Ärzteblatt 98(19), Seite A 1240–1245, Mai 2001
  27. Rede des Präsidenten Hubert Markl zur Enthüllung des Mahnmals zum Gedenken an Opfer der nationalsozialistischen Euthanasiemaßnahmen Berlin-Buch, 14. Oktober 2000
  28. Herbert Olivecrona: The Nobel Prize in Physiology or Medicine 1949, Presentation Speech In: Nobel Lectures, Physiology or Medicine 1942–1962, Elsevier Publishing Company, Amsterdam, 1964 [1]
  29. Barbara E. Swartz and Eli S. Goldensohn: Timeline of the history of EEG and associated fields. In: Electroencephalography and clinical Neurophysiology 106 (1998) 173-176
  30. Wilder Penfield, Theodore Rasmussen: The Cerebral Cortex of Man. A Clinical Study of Localization of Function. New York, The Macmillan Comp. 1950
  31. Ragnar Granit: The Nobel Prize in Physiology or Medicine 1963, Presentation Speech In: Nobel Lectures, Physiology or Medicine 1963–1970, Elsevier Publishing Company, Amsterdam, 1972 [2]
  32. Peter Düweke, a.a.O., S. 174
  33. R. W. Sperry, Proc. Natl. Acad. Sci. U. S. A. 50, 703, 1963>
  34. D. H. Hubel and T. N. Wiesel, J. Physiol. 148, 574, 1959
  35. L.A. Geddes, d'Arsonval, Physicial and Inventor. In: IEEE Engineering in Medicine and Biology, Juli/August 1999, Seiten 118-122
  36. Barker AT, Jalinous R, Freeston IL: Non-invasive magnetic stimulation of human motor cortex. Lancet 1985;1:1106-1107
  37. Giacomo Rizzolatti et al. (1996). Premotor cortex and the recognition of motor actions, Cognitive Brain Research 3 131-141
  38. Markram H (2006) The blue brain project. Nat Rev Neurosci; 7(2):153-60. Review.
  39. Dodt HU et al. (2007) Ultramicroscopy: three-dimensional visualization of neuronal networks in the whole mouse brain. Nature Methods 4, 331 - 336
  40. Wolf Singer: Ein neues Menschenbild? Gespräche über Hirnforschung, Suhrkamp, 4. Auflage 2003, ISBN 978-3518291962
  41. Michael Pauen: Was ist der Mensch? Die Entdeckung der Natur des Geistes, Deutsche Verlags-Anstalt, 2007. ISBN 978-3-421-04224-8
 
Dieser Artikel basiert auf dem Artikel Geschichte_der_Hirnforschung aus der freien Enzyklopädie Wikipedia und steht unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation. In der Wikipedia ist eine Liste der Autoren verfügbar.
Ihr Bowser ist nicht aktuell. Microsoft Internet Explorer 6.0 unterstützt einige Funktionen auf ie.DE nicht.