Götterspeise, Haftnotizen und Smartphone-Sensoren – die Geheimnisse der Adhäsion

Studie aus der Reibungsphysik mit grundlegenden mechanischen Erkenntnissen für Mikro- und Medizintechnologie

29.04.2019 - Deutschland

Goethes Faust scheiterte noch an der Frage „...was die Welt im Innersten zusammenhält“. Heute geben Tribologen, also Wissenschaftler, die sich mit Reibungsphysik beschäftigen, eine einfache Antwort: die Adhäsion, das Aneinanderhaften zweier Körper. Die Adhäsion bestimmt die Haftung bei einer geklebten Verbindung – seien es Schuhsohlen, Autodächer oder Flugzeugflügel aus Kohlefaser, ein Notizzettel an der Wand oder ein medizinisches Pflaster. Viele Systeme der Mikrotechnik, wie zum Beispiel Lagesensoren in Smartphones, sind wegen ihrer Kleinteiligkeit allerdings auch anfällig für eine ungewollt starke Haftung. So sind Technik und Medizin sehr an Technologien interessiert, mit denen die Haftung nach Bedarf vergrößert oder vermindert werden kann. Adhäsion ist eines der zentralen Themen der aktuellen Forschung am Fachgebiet „Systemdynamik und Reibungsphysik“ der TU Berlin unter der Leitung von Prof. Dr. Valentin Popov. Mit einer neu entwickelten Methodik konnte ein Team um den TU-Wissenschaftler in einer Reihe numerischer Simulationen und Experimente wichtigste Einflussfaktoren auf die Haftigkeit der adhäsiven Kontakte erforschen.

© TU Berlin/PR/Anna Groh

Wie stark muss eine Haftnotiz kleben? Antworten gibt die Reibungsphysik.

Skitterphoto, pixabay.com, CC0

Haftkraft im atomaren Bereich: Warum Geckos an der Wand laufen können, erklärt die Wissenschaft über Adhäsion.

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„Die sogenannte Haftigkeit, der adhäsive Kontakt an den Grenzflächen zwischen zwei Körpern, kann stark von der makro- und mikroskopischen Beschaffenheit der jeweiligen Oberflächen abhängen“, erklärt Professor Valentin Popov. „Auch in der Tierwelt sind diese Adhäsionskräfte am Werk. Heuschrecken und Geckos beispielsweise nutzen die adhäsive Haftung ihrer Füße zu den verschiedensten Oberflächen, um auch an Wänden und Fenstern zu laufen.“ Lebendige Zellen würden durch Milliarden dieser mikroskopischen Einheiten zu einem lebenden Organismus verbunden. „Die Stärke der Adhäsion zwischen Zellen bestimmt auch deren Beweglichkeit und Wachstum. So kann eine Störung sogar Ursache für die Entwicklung von Tumoren sein“, sagt Popov.

Haftkraft im atomaren Bereich beobachtet

Um Störungen zu vermeiden, sei die Kraft der Adhäsion in der Mechanik sehr sorgfältig zu beachten und zu dosieren, denn nicht immer ist sie nützlich – Ventile mit Gummidichtung müssen jederzeit öffnen können, eine zu starke Adhäsion könnte zu Fehlfunktionen führen. In den Experimenten der TU-Forscher spielt die sogenannte Trennungsenergie eine große Rolle. In diese Kenngröße „Trennungsenergie“ fließen alle Details der adhäsiven Wechselwirkung der Oberflächen: Die physikalische Beschaffenheit, Reibungselektrizität, Wasserstoffbrücken, elektrochemische Doppelschicht-Wechselwirkungen oder Interdiffusion von Polymerketten gehören dazu. „Je größer die Trennungsenergie, desto stärker die Haftkraft, die Adhäsion“, so Dr. Roman Pohrt, Mitautor des „Friction“-Artikels. „Einen weiteren Einfluss nehmen Aspekte von Geometrie und Mechanik wie die Rauheit der Oberfläche. Da Adhäsionskräfte meist nur im atomaren Bereich wirksam werden, müssen die Oberflächen zwingend sehr nahe aneinander gebracht werden. Bei rauen Oberflächen haben nur die Rauheitsspitzen echten Atom-zu-Atom-Kontakt. Auf mikroskopischer Ebene bleiben dann große Teile der kontaktierenden Oberflächen durch einen Spalt getrennt.“ Allgemein gilt: je rauer also zwei Oberflächen, desto geringer die Haftkraft. Um diese zu erhöhen könne man also beispielsweise den Spalt mit langsam erstarrender Flüssigkeit füllen (Klebetechnik) oder mit einem sehr weichen Gegenkörper. Roman Pohrt gibt ein simples Beispiel: „Diesen Effekt kann jeder Mensch zu Hause erfahren, indem er einen Löffel an die Götterspeise drückt und dann versucht, den Löffel langsam zu heben. Das funktioniert ebenso gut mit einem zerkratzten, also rauen Löffel.“

Frühe Warnung vor dem Versagen von Klebeverbindungen

Die Studie zielt vor allem auf das Verständnis ab, welchen Einfluss die makroskopische Form auf die adhäsive Festigkeit und auf den Prozess des Ablösens hat. Dr. Roman Pohrt entwickelte eine hoch-effiziente Methode zur Computersimulation des Ablöseprozesses. Er baute ein Gerät, in welchem die Ablösung einer Haftverbindung, zum Beispiel von verschieden geformten Pflastern oder von Glaswürfeln auf gallertartiger Materie gemessen und live mit einer Videokamera beobachtet werden konnte. Das Gerät und die Experimente sind ebenfalls in einem allgemeinverständlich gehaltenen Youtube-Video zu sehen, in dem auch der dritte Autor der Studie, Dr.-Ing. Qiang Li die spezifischen Computer-Codierungen für die Simulationen erklärt. Der gezeigte Effekt, dass scharfe Ecken, zum Beispiel bei Pflastern, sich zuerst ablösen, ist aus dem Alltag gut bekannt. „Eine wesentliche ins Bild gesetzte Erkenntnis ist jedoch, bei welchen Formen die Ablösung an welchen Stellen stoppt und erst bei signifikanter Krafterhöhung weiter voranschreitet. Dieses ist für das Design von Klebeverbindungen in der Industrie von Bedeutung, zum Beispiel als Frühwarnung vor einem kritischen Versagen der Klebeverbindung“, so Roman Pohrt.

Auch auf die Frage, ob es zum Beispiel möglich ist, ein Pflaster zu entwerfen, welches gut hält, beim Abziehen aber nicht wehtut, gibt das Paper eine Antwort. Valentin Popov: „Diese Frage betrifft die sogenannten ‚Gradierten Werkstoffe‘, ein Trend in der modernen Materialwissenschaft. Wir empfehlen die Verwendung eines ‚Gradientenmaterials‘ als Zwischenschicht, das an der Oberfläche viel weicher ist als in den tieferen Bereichen.“

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