Verkrüppelte Flügel, fehlende Fühler

Bereits geringe Strahlenbelastungen schädigen Wanzen schwer

23.04.2008

Nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl 1986 fand sie ihre wahre Bestimmung: Seitdem studiert und malt Cornelia Hesse-Honegger missgebildete Insekten, vor allem Wanzen, die sie in den Fallout-Gebieten und im Umfeld von Atomanlagen sammelt. Aufbauend auf ihren 25 Jahren Erfahrung als wissenschaftliche Zeichnerin beim Naturhistorischen Museum der Universität Zürich (Schweiz) schuf sie ästhetische Zeugnisse einer bedrohten Tierwelt, die in internationalen Kunstgalerien ausgestellt wurden. Zusammen mit dem ehemaligen Wissenschaftsredakteur Peter Wallimann hat Hesse-Honegger ihre umfangreichen Studien nun in der Zeitschrift chemistry & Biodiversity zusammengefasst.

Viele Experten waren damals überzeugt, dass die radioaktive Strahlung nach dem Unfall von Tschernobyl in Europa viel zu gering sei, um Wanzen oder andere Lebewesen zu beeinträchtigen. Hesse-Honegger entdeckte dagegen ein schockierendes Ausmaß an Deformationen bei Wanzen aus Schwedens Fallout-Gebieten. Von 1986 bis 2007 nahm sie daraufhin die morphologische Erscheinung verschiedener Wanzenarten weltweit ganz systematisch unter die Lupe. So sammelte sie mehr als 16.000 Wanzen, untersuchte sie genauestens, identifizierte verschiedene Arten von Fehlbildungen und fertigte mehr als 300 detaillierte Zeichnungen an. In der Gegend von Kernkraftwerken und Atomaufbereitungsanlagen, beispielsweise in der Schweiz (Aargau), Frankreich (La Hague) und Deutschland (Gundremmingen), fanden sich schwere Störungen und Missbildungen bei Wanzen und anderen Insekten. Gebietsweise wiesen über 30% der untersuchten Wanzen Störungen auf, wie fehlende Fühlersegmente, verformte Flügel, asymmetrische Leibsegmente, Geschwüre, schwarze Flecken oder eine veränderte Pigmentierung. Dieser Anteil liegt wesentlich höher als bei Populationen in weitgehend unberührten Lebensräumen (maximal 1 bis 3%).

Dabei zeigte sich, dass nicht die Entfernung von einer Atomanlage entscheidend ist, sondern Windrichtung und lokale Topologie: Gebiete im "Windkanal" einer Atomanlage sind wesentlich stärker von Missbildungen betroffen als geschützte Stellen. Radionuklide, wie Tritium, Kohlenstoff-14 oder Iod-131, werden konstant von Kernkraftwerken emittiert, offenbar als Aerosole mit dem Wind transportiert und in den Wirtspflanzen der Wanzen akkumuliert. Eine solche niedrige, aber lang andauernde Strahlendosis kann weit schädlicher sein als eine kurzzeitige hohe Dosis (Petkau-Effekt). Zudem sind "heiße" alpha- und beta-Teilchen wesentlich gefährlicher als gamma-Strahlen, da sie vom Organismus aufgenommen werden und ihn quasi von innen bestrahlen. Wanzen scheinen darauf besonders empfindlich zu reagieren.

Hesse-Honegger empfiehlt, die gegenwärtigen Schwellenwerte für radioaktive Immissionen neu zu überdenken. Allerdings sei die biologische Wirkung einer Strahlung sehr schwer zu beziffern. Wanzen könnten als sensitive "Bioindikatoren" für zukünftige Studien dienen.

Originalveröffentlichung: "Malformation of True Bug (Heteroptera): a Phenotype Field Study of the Possible Influence of Artificial Low-Level Radioactivity"; Chemistry & Biodiversity, 2008, Vol. 5, Ausgabe 4, S. 499-539.

Tel. +49(0)6201/606-574

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