Antikörper als „Botenstoffe“ im Nervensystem

30.01.2017 - Deutschland

Dass Antikörper in Millisekunden menschliche Nervenzellen aktivieren und damit ihre Funktion ändern können, ist das überraschende Ergebnis einer vom Lehrstuhl für Humanbiologie der Technischen Universität München (TUM) durchgeführten Studie. Dieses Wissen verbessert das Verständnis der Begleiterkrankungen bestimmter Formen von Krebs – allen voran der sehr problematischen Darmlähmung.

Schemann, Michel/ TUM

Ein Ganglion im menschlichen Darm, in dem Nervenaktivität über ein bildgebendes Verfahren nach Gabe des Anti-HuD-Serums registriert wurde. Die Nervenaktivität ist rot.

Funktionelle Störungen von Organen, die im Zusammenhang mit einer Tumorerkrankung auftreten, werden Paraneoplastische Syndrome genannt. Diese verursacht nicht der Primärtumor selbst, sondern sie sind häufig eine Folge einer Autoimmunreaktion des Körpers. Dabei richten sich Antikörper im Menschen gegen die eigenen Zellen und greifen diese an.

Eine dieser Funktionsstörungen ist eine Lähmung des Darms (Darmatonie). Sie erschwert es, Patienten über die Nahrung mit notwendigen Nährstoffen und Kalorien zu versorgen. Das sogenannte Anti-Hu-Syndrom, als eine Form des Paraneoplastischen Syndroms, ist häufig mit einer Darmlähmung assoziiert und kommt in der Regel im Zusammenhang mit dem kleinzelligen Lungentumor vor. Paraneoplastische Syndrome treten häufig auf noch bevor der Tumor überhaupt entdeckt wurde.

Hu ist ein Protein. In verschiedenen Versionen kommt es normalerweise in den Zellkernen aller Nervenzellen vor – gemeint sind HuA, B, C und D. Da der Tumor das Hu-Protein bildet, generiert das Immunsystem dagegen Antikörper. Diese dienen zunächst der Tumorabwehr: Je mehr Antikörper gebildet werden, desto langsamer wächst der Tumor. Diese Anti-Hu-Antikörper – benannt 1985 nach dem ersten Patienten, in dem diese Antikörper entdeckt wurden – führen aber auch zu einer Autoimmunreaktion mit einer Darmlähmung als Begleiterkrankung.

Nerven werden aktiviert bevor sie beschädigt werden können

Professor Michael Schemann und seine Mitarbeiter vom Lehrstuhl für Humanbiologie der TU München wollten Ursachen für mögliche Nervenfunktionsstörungen identifizieren wie sie bei Paraneoplastischen Syndromen und Darmlähmung auftreten. Dafür untersuchten sie Seren von Patienten mit kleinzelligem Lungentumor von der Mayo Klinik in Rochester (USA). In einer über zehn Jahre durchgeführten Studie konnten die Forscher erstmals zeigen, dass diese Patientenseren innerhalb von Millisekunden menschliche Nervenzellen aktivieren, ohne dass sie geschädigt werden. Dies verändert Nervenfunktionen weit bevor die Autoimmunreaktion die Nerven schädigt.

In Zusammenarbeit mit der Firma Euroimmun aus Lübeck konnte das Team sogar den dafür verantwortlichen Faktor identifizieren: Normalerweise werden Nervenzellen über Botenstoffe aktiviert oder gehemmt, die auf spezifische Signalauslöser (Rezeptoren) in der Zellmembran wirken. Erstaunlicherweise war es bei den Patientenseren indes ein Antikörper, nämlich der Anti-HuD-Antikörper, welcher die Nervenzellen erregte.

Antikörper ahmt Botenstoffe Acetylcholin und Adenosintriphosphate nach

Das Besondere an diesem Befund war die Tatsache, dass der Antikörper nicht über die Bindung an sein eigentliches Hu-Zielprotein wirkt. „Interessanterweise wird die nervenaktivierende Wirkung über Rezeptoren für Neurotransmitter vermittelt“, sagt Professor Schemann, „es sind dies Rezeptoren, die üblicherweise durch Acetylcholin und Adenosintriphophat aktiviert werden." Der Antikörper ahmt quasi die Wirkung der Botenstoffe Acetylcholin und Adenosintriphosphat nach.

Das HuD-Protein stabilisiert normalerweise die Ribonukleinsäure (RNA) und hat mit Nervenaktivierung nichts zu tun. Es bleibe zwar nach wie vor noch eine Blackbox, wie und wo exakt der Anti-HuD-Antikörper an die Rezeptoren bindet. Jedoch läute die nun entdeckte Wirkung des Anti-HuD-Antikörpers einen Paradigmenwechsel laut Professor Schemann ein, weil Antikörper Nerven aktivieren können unabhängig von Antikörper spezifischen Bindungsstrukturen auf der Zellmembran.

„Was wir gefunden haben", erklärt Professor Schemann, "wird zwar nicht den Lungenkrebs selbst heilen, aber es führt zu einem neuen klinischen Verständnis und somit hoffentlich zu neuen Therapieansätzen der damit zusammenhängenden Paraneoplastischen Syndrome wie etwa der chronischen Darmlähmung.“

Die Gruppe am Lehrstuhl für Humanbiologie hat erst kürzlich als Kooperationspartner der Charité in Berlin gezeigt, dass Antikörper menschliche Nerven aktivieren können*. Hierbei war aber das Wirkprinzip offensichtlich, da die Bindung des Antikörpers an definierte Strukturen eines Kaliumkanals die Erregbarkeit der Nerven veränderte.

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