Bonn (
dpa) - Seit der Medienrummel um ihn etwas abgenommen hat, ist der Hirnforscher Oliver Brüstle wieder häufiger in seinem Labor und kann sich mehr um die
Zellkulturen in seinen
Petrischalen kümmern. Das war vor kurzem noch anders. Da stand der Bonner Forscher fast häufiger vor Mikrofonen als vor Mikroskopen. Jeder wollte Zitate von dem Mann, der die Diskussion um die Forschung an menschlichen embryonalen
Stammzellen ausgelöst hatte, die sich dann zur wohl heftigsten wissenschaftspolitischen Kontroverse in der Bundesrepublik entwickelte. Brüstle beantragte als erster deutscher Wissenschaftler
Fördermittel für die Arbeit mit embryonalen
Stammzellen und erhielt vor genau einem Jahr (20. Dezember) als erster die Import-Erlaubnis.
«Kurz nach der Genehmigung kamen vier
Zelllinien aus
Israel», sagt Brüstle. Die
Zellen konnte er wenig später vermehren und in den vergangenen Monaten als Zellkultursystem etablierten - für ihn ein erster Schritt auf dem Weg zu einem ehrgeizigen Ziel. Der 41-Jährige und andere
Mediziner wollen mit embryonalen Stammzellen in Zukunft schwere
Krankheiten heilen und die Funktion verschlissener
Organe wiederherstellen. Diese
Zellen sind noch nicht auf eine bestimmte Funktion spezialisiert, können sich unbegrenzt teilen und im Körper zu mehr als 200 verschiedenen Gewebearten heranwachsen. Sie werden in der Regel aus
Embryonen gewonnen, die bei einer künstlichen Befruchtung entstehen und nicht mehr für eine
Schwangerschaft benötigt werden.
Genau diese «Zellen-Beschaffung» sorgte für erhebliche Bedenken. Kritiker - nicht nur aus den Kirchen - fürchteten einen ethischen Dammbruch. Sie warnten davor, dass Embryonen zu menschlichen Ersatzteillagern degradiert werden. Außerdem stellte sich, wie schon bei der Diskussion um Abtreibung, die Frage nach dem Schutz und dem Wert des ungeborenen Lebens sowie nach dem genauen Zeitpunkt, ab wann eine Anhäufung von Zellen als Mensch anzusehen ist. Nach einer historischen Debatte im
Bundestag wurde ein Gesetz verabschiedet, das zwar die Gewinnung solcher Zellen in
Deutschland verbietet, aber gleichzeitig den Import für «hochrangige Forschungszwecke» erlaubt.
Ein solcher «hochrangiger Zweck» ist Brüstles Forschung zur
Reparatur von zerstörtem Nervengewebe. «Der Einsatz embryonaler Stammzellen könnte etwa bei Krankheiten Erfolg versprechend sein, bei denen im
Gehirn regional begrenzt
Nervenzellen absterben», berichtet Brüstle. Das sei beispielsweise bei der
Parkinson-Krankheit der Fall. Erste Rückschlüsse darauf lassen Brüstles Erfolge bei Tierversuchen zu. Ihm war es mit US-Forschern gelungen, aus embryonalen Stammzellen von Mäusen
Gehirnzellen zu entwickeln. Diese Zellen wurden dann in Ratten implantiert, die zerstörtes Nervengewebe hatten. Innerhalb weniger Wochen verbesserte sich der Zustand der kranken Ratten.
Neben der Reparatur von
Nervenzellen arbeiten in
Deutschland auch Forscher am Ersatz zerstörter Herzmuskelzellen. Insgesamt haben nach dem Team um Brüstle mittlerweile drei staatliche geförderte Forscherteams und ein Unternehmen die Erlaubnis zum Import menschlicher embryonaler Stammzellen erhalten. Nach Angaben des Robert-Koch-Instituts, der zuständigen Behörde, sind das: das Max- Planck-Institut für
Biophysikalische Chemie (Göttingen), Mediziner der Universitäten Köln und München sowie das Mainzer Unternehmen
ProteoSys.
In Bonn wollen Brüstle und seine Kollegen in den kommenden Wochen eine weitere Hürde in der noch jungen Forschung nehmen. «Die humanen Zellen implantieren wir in Gehirne von Ratten und Mäusen», kündigt Brüstle an. Dann werde die Ausreifung dieser Zellen untersucht. Dabei müssen die Forscher unter anderem auch Ausschau nach Tumoren halten, denn da sich Stammzellen beliebig häufig teilen, sehen Mediziner die Gefahr, dass sich die Zellen unkontrolliert vermehren könnten.
Trotz solcher möglicher Risiken bewertet Brüstle die immer noch ethisch strittige Forschung mit menschlichen embryonalen Stammzellen als lohnenswert. «Das ist eine Technologie mit großem Potenzial», hebt er hervor. Zugleich versetzt er vorschnellen Hoffnungen auf den baldigen Einsatz einen
Dämpfer: «Bis zu einer klinischen Anwendung wird es sicher noch zehn Jahre dauern - womöglich sogar länger.»