Antikörper auf Abwegen

26.10.2010 - Deutschland

Stiff-Person-Syndrom: So heißt eine seltene Nervenerkrankung, deren Ursachen der Wissenschaft noch Rätsel aufgeben. Ein Forschungsteam aus der Neurologischen Uniklinik hat jetzt Neues über die Krankheit herausgefunden.

Christian Geis

Die krank machenden Antikörper (rot) von Patienten, die am Stiff-Person-Syndrom leiden, richten sich gegen das Protein Amphiphysin. Sie können Strukturen innerhalb von Nervenzellen erreichen, wie Würzburger Wissenschaftler nachgewiesen haben. Die Antikörper wurden mit Nanokristallen im Fluoreszenzmikroskop sichtbar gemacht.

Beim Stiff-Person-Syndrom versteift sich die gesamte Körpermuskulatur erst anfallsartig, später dauerhaft. Platzangst und übergroße Schreckhaftigkeit kommen hinzu. Wenn die Krankheit voll ausgeprägt ist, können die Betroffenen weder gehen noch stehen; sie sind dann auf den Rollstuhl angewiesen.

Antikörper attackieren Gehirn und Rückenmark

Dem Syndrom liegt eine Immunerkrankung des Zentralen Nervensystems zu Grunde: Bestimmte Antikörper greifen in Gehirn und Rückenmark gezielt ein Protein an. Normalerweise wehren Antikörper gefährliche Eindringlinge wie Bakterien oder Viren ab. Sie können sich aber auch fälschlicherweise gegen den eigenen Körper richten, wie es beim Stiff-Person-Syndrom geschieht. Mediziner sprechen dann von einer Autoimmunkrankheit.

Beim Stiff-Person-Syndrom attackieren die fehlgeleiteten Antikörper das Protein Amphiphysin, das für die ordnungsgemäße Funktion der Schaltstellen zwischen Nervenzellen sowie zwischen Nerven und Muskeln wichtig ist. Nach der vorherrschenden Meinung in der Wissenschaft befindet sich dieses Protein innerhalb der Zellen - und sollte darum für Antikörper eigentlich gar nicht erreichbar sein.

GABA-Mangel führt zum Stiff-Person-Syndrom

Die Würzburger Forscher haben aber klar nachgewiesen, dass die aus Patienten isolierten Antikörper ihr Zielmolekül in den Zellen erreichen und spezifisch daran binden können. Über Zwischenschritte im Zellzyklus bewirken sie dann eine verminderte Freisetzung des Botenstoffs GABA, der die Aktivität der Nervenzellen bremst. Im Tiermodell führt das zu den typischen Symptomen des Stiff-Person-Syndroms, wie muskulärer Übererregbarkeit, Steifigkeit und Muskelkrämpfen.

Publikation in der Zeitschrift Brain

Claudia Sommer, Christian Geis und Klaus V. Toyka von der Neurologischen Uniklinik stellen ihre neuen Erkenntnisse in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift Brain vor. Die Publikation ist in Zusammenarbeit mit Manfred Heckmann entstanden, dem Leiter des Würzburger Instituts für Physiologie. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) hat die Arbeiten im Sonderforschungsbereich 581 „Molekulare Modelle für Erkrankungen des Nervensystems“ gefördert.

„Wir haben mit mehreren Techniken nachgewiesen, dass die Antikörper ihr Ziel erreichen“, sagt Claudia Sommer. Welche Schleichwege die Antikörper dafür nutzen, ist bislang nicht geklärt. Diese Frage wollen die Wissenschaftler als nächstes lösen.

Perspektiven für die Therapie

Wenn es gelingt, die Aktivität der Antikörper beispielsweise mit Medikamenten zu beeinflussen, könnten sich daraus neue Therapiemöglichkeiten ergeben. Das gilt nicht nur für das Stiff-Person-Syndrom, sondern auch für andere Gebiete: „Antikörper spielen auch bei Erkrankungen eine Rolle, die zusätzliche andere Ursachen haben“, sagt Christian Geis. Als Beispiel nennt er die Neuromyelitis optica, eine Krankheit, bei der Antikörper ihr zerstörerisches Werk gegen Rückenmark und Sehnerven richten.

Originalveröffentlichung: Geis, C et al.; "Stiff person syndrome-associated autoantibodies to amphiphysin mediate reduced GABAergic inhibition"; Brain 2010

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