Meisterhafter Kidnapper: Wie Leukämie die körpereigenen Abwehrkräfte entwaffnet

Mikroskopisch kleine Bläschen, die von leukämische Zellen und den sie umgebenden Zellen freigesetzt werden, behindern die körpereigene Krebsbekämpfung

19.10.2022 - Luxemburg

Eine Studie unter der Leitung der Gruppe „Tumor Stroma Interactions“ (TSI) am Luxembourg Institute of Health hat herausgefunden, dass mikroskopisch kleine Bläschen, die von Tumoren und den sie umgebenden Zellen bei Mäusen mit chronischer lymphatischer Leukämie freigesetzt werden, einen bestimmten Zweig des körpereigenen Immunsystems lahmlegen und dieses daran hindern, Krebszellen zu zerstören. Diese Entdeckung bietet eine wesentliche Erklärung dafür, wie Krebs das Immunsystem entwaffnet und könnte einen neuen Ansatzpunkt für die Behandlung von Leukämie und anderen Krebsarten bieten.

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Krebs ist wohl die Krankheit, die uns am wahrscheinlichsten treffen kann, und dabei gleichzeitig eine der Erkrankungen, die am schwierigsten zu heilen oder zu behandeln ist. Einer der Gründe für diese Widerstandsfähigkeit ist, dass Krebs im Gegensatz zu den meisten anderen Krankheiten unser Immunsystem entfliehen und es sogar daran hindern kann, effizient zu arbeiten. Dies gilt insbesondere für Blutkrebsarten wie die chronische lymphatische Leukämie (CLL), die in hohem Maße immunsuppressiv ist. Doch wie genau schalten Krebserkrankungen das körpereigene Immunsystem aus? Wie alles beim Krebs ist der Mechanismus vielschichtig, und WissenschaftlerInnen versuchen seit Jahren, die einzelnen Puzzleteile zusammenzusetzen.

Die Forschungsgruppe TSI am Luxembourg Institute of Health (LIH) unter der Leitung von Dr. Jérôme Paggetti und Dr. Etienne Moussay hat nun ein wichtiges Teil dieses Puzzles entschlüsselt. Die ForscherInnen entdeckten, dass mikroskopisch kleine "Säckchen", so genannte kleine extrazelluläre Vesikel (kurz sEV), die in der Tumorumgebung (der Region um den Tumor) von Mäusen mit CLL freigesetzt werden, direkt dafür verantwortlich sind, eine bestimmte Komponente des körpereigenen Immunsystems zu inhibieren, die wichtig für den Kampf gegen den Krebsist, so genannte CD8+ T-Lymphozyten.

„Obwohl wir und andere bereits früher gezeigt haben, dass sEV die Entstehung von CLL begünstigt, wurden die in diesen Studien verwendeten sEV hauptsächlich in einer Kulturschale oder "in vitro" erzeugt, was die Situation im lebenden Körper möglicherweise nicht vollständig widerspiegelt“, so Dr. Jérôme Pagetti, Co-Gruppenleiter des TSI-Teams und einer der leitenden ForscherInnen der Studie.

Krebsforscher des LIH haben nun sEV direkt aus der Tumorumgebung von Mäusen mit CLL isoliert, um zu untersuchen, inwiefern sie das Krebswachstum und -fortschreiten fördern.

„In der Umgebung des Tumors sind die Krebszellen nicht die einzigen Zellen, die sEV freisetzen. Was wir aus der Leukämie-Mikroumgebung isoliert haben, stellt einen sEV-Cocktail dar, den wir vermutlich so auch in der realen Umwelt vorfinden. Die Untersuchung dieser sEV wird wichtige Anhaltspunkte dafür liefern, was bei Leukämie wirklich vonstatten geht", so Dr. Jérôme Paggetti weiter.

Die WissenschaftlerInnen fanden heraus, dass diese leukämischen sEV einen eindeutigen „Fingerabdruck“ aufweisen, der aus Oberflächenproteinen und spezifischem Frachtmaterial besteht, was ihnen hilft, die Immunantwort zu unterdrücken. Sie entdeckten zudem, dass leukämische sEV von Zellen, die am Immunsystem beteiligt sind, aufgenommen werden. Darüber hinaus verändert sich die von den leukämischen sEV mitgeführte Fracht, so dass die CD8+ T-Zellen "erschöpft" sind und keine Immunantwort mehr hervorrufen können. „Dies unterscheidet sich von dem, was wir zuvor mit in vitro erzeugten sEV gesehen haben. sEV in der Umgebung der Leukämie fungieren als R äuber, die Immunzellen infiltrieren und sie von innen heraus entwaffnen", erklärt Dr. Etienne Moussay, Co-Gruppenleiter des TSI-Teams.

Um die Auswirkungen von sEV in vivo besser beurteilen zu können, generierte das TSI-Team Mäuse, die eine Mutation tragen, welche sie daran hindert, sEV freizusetzen. Das Fehlen von sEV verzögerte die Entwicklung und das Fortschreiten der Leukämie bei diesen Mäusen dramatisch. Darüber hinaus wurde das typische Fortschreiten der Leukämie wiederhergestellt, wenn denselben Mäusen erneut leukämische sEV zugeführt wurden oder wenn diese mutierten Tumorzellen auf andere Mäuse übertragen wurden, denen CD8+ T-Zellen fehlten.

„Unsere Ergebnisse zeigen eindeutig, dass die Entwicklung und das Fortschreiten der chronischen lymphatischen Leukämie vom Zusammenspiel zwischen sEV und CD8+ T-Zellen abhängt. Diese Entdeckung hat das Potenzial, den Kurs für künftige Krebstherapien und die Art und Weise, wie wir die Krebsforschung angehen, zu verändern“, fasst Dr. Ernesto Gargiulo, Hauptautor der Studie, zusammen.

Das Team untersuchte auch, ob leukämisches sEV als Marker für den Krankheitsverlauf bei PatientInnen mit CLL dienen könnte. Sie fanden heraus, dass eine hohe Ausprägung von Genen, die mit der sEV-Biogenese zusammenhängen, mit einer aggressiveren Form der Krankheit und einer schlechten Prognose und Überlebensrate korrelierte.

„Das Potenzial von sEV, auch als Marker für die Krankheit zu dienen, könnte dazu führen, dass LeukämiepatientInnen in Zukunft auf sEV-verwandte Gene getestet werden, um ihre Prognose besser einschätzen und einen geeigneten Behandlungspfad festlegen zu können", ergänzt Dr. Jérôme Paggetti

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