Zwei molekulare Greifarme gegen Tumorzellen

Braunschweiger Antikörper wird in den USA erprobt

06.04.2021 - Deutschland

Im Rahmen einer klinischen Studie wurden erste Patienten mit fortgeschrittenen Tumoren in den USA mit einem neuartigen Antikörper-basierten Medikament behandelt. Es nutzt eine Erfindung der Technischen Universität Braunschweig: Das Team von Professor Stefan Dübel, Leiter der Abteilung Biotechnologie, hat einen menschlichen Antikörper entdeckt, der gegen Tumorzellen gerichtet ist, und ihn über viele Jahre weiterentwickelt. Dieser Antikörper ist jetzt Teil eines komplexen neuartigen Wirkstoffes gegen schwer behandelbare Krebsarten, der von der Pharmafirma Merck klinisch getestet wird.

Stefan Dübel/TU Braunschweig

Modell (Symbolbild) eines bi-spezifischen Antikörper-Moleküls. Die beiden „Greifarme“ (in Rot und Grün dargestellt), können an zwei ganz verschiedenen Merkmalen der Tumorzelle gleichzeitig ankoppeln. Damit wird die Erkennung von Krebszellen gegenüber den normalen Körperzellen verbessert. Der untere Teil des Antikörpers (gelb) erzeugt dann eine Immunantwort gegen die Krebszelle. Zusätzlich ist der Antikörper noch mit einem weiteren Medikament gegen Tumore beladen, das er damit genau am richtigen Ort anliefert.

Das Molekül M1231 ist ein biotechnologisch konstruierter sogenannter bi-spezifischer Antikörper mit zwei verschiedenen „Greifarmen“. Im Gegensatz zu einem normalen Antikörper, der nur ein Merkmal von Krebszellen erkennt, kann M1231 zwei unterschiedliche Merkmale auf den Krebszellen zur Erkennung nutzen. Da die beiden erkannten Oberflächenstrukturen in geringer Menge auch auf verschiedenen anderen Geweben vorkommen, jedoch nicht gleichzeitig, kann M1231 die Tumorzellen sehr gezielt erkennen. Darüber hinaus ist der Antikörper – ein bi-spezifisches „antibody drug conjugate“ (ADC) – zusätzlich noch mit einem pharmazeutischen Wirkstoff beladen, der das Tumorwachstum hemmt.

Nach der Bindung des bi-spezifischen ADC an die Krebszellen aktiviert er das körpereigene Immunsystem gegen den Tumor. Er wird zusätzlich auch von den Tumorzellen aufgenommen und setzt dann den krebshemmenden Wirkstoff direkt im Tumor frei. Dieser neue therapeutische Ansatz zielt auf eine erhöhte Effektivität. Gleichzeitig sollen die Nebenwirkungen gegenüber den derzeit verwendeten Medikamenten verringert werden.

Klinische Studie in den USA

Der eine Antikörper-Arm des ADC-Moleküls wurde an der Technischen Universität Braunschweig unter Leitung von Professor Stefan Dübel entwickelt, während der andere auf dem bereits bewährten Krebsmedikament Erbitux der Firma Merck aus Darmstadt basiert, die auch die klinische Entwicklung von M1231 betreibt. In der klinischen Studie (NCT04695847) wird jetzt die Sicherheit des Wirkstoffes für Patienten mit metastasierten soliden Tumoren, Speiseröhrenkrebs und nicht-kleinzelligem Lungenkarzinom untersucht. Die Studie wird in Texas am MD Anderson Cancer Center in Houston und NEXT Oncology in Austin sowie in Kanada am Princess Margaret Cancer Centre in Toronto durchgeführt. Die Studie hat eine voraussichtliche Laufzeit bis Juli 2023.

Verbesserte Zielfindungs- und Bekämpfungsfunktionen

Professor Michael Hust aus der Abteilung Biotechnologie, der die Entwicklung über Jahre mit vorangetrieben hat: „Die bisherigen Tumorwirkstoffe auf Antikörperbasis helfen vielen, aber leider noch nicht genug Patientinnen und Patienten. In M1231 wurden verbesserte mehrfache Zielfindungs- und Bekämpfungsfunktionen eingebaut. Diese aggressiven fortgeschrittenen Krebserkrankungen sind eines der noch ungelösten großen Probleme der Krebstherapie. Wir sind froh, dass nun ein biotechnologischer Wirkstoffkandidat, in dem ein von uns in Braunschweig entwickelter Antikörper verwendet wird, klinisch getestet wird.“

Lange und aufwändige Entwicklung

Professor Dübel: „Das Beispiel M1231 zeigt, wie lange die Entwicklung eines neuartigen Wirkstoffes dauern kann. Die ersten Vorstufen unseres Antikörpers entstanden bereits vor 20 Jahren.“ Die aufwändige Entwicklung des Antikörpers zu einem potenziellen Medikament auf Basis dieser ersten Forschungsergebnisse dauerte mehr als zehn Jahre. Erst 2012 wurde das Patent erteilt. Dabei wurde mithilfe des von Dübel mitentwickelten Antikörper-Phagendisplays eine „Evolution im Reagenzglas“ durchgeführt, die zu wesentlich besseren Eigenschaften des Wirkstoffes führte. „Aber auch danach kostete es noch weitere neun Jahre und unzählige Versuche. Deshalb ist die Freude groß, dass neben unserem COVID-19-Medikament jetzt noch ein weiterer Antikörper aus unserem Labor in die klinische Prüfung kommt.“

Dr. Lars Toleikis, mit dessen Doktorarbeit vor 20 Jahren die Entwicklung begann, sagt: „Für mich als Biologen und Antikörperforscher ist es ein ganz besonderes Gefühl, dass meine Arbeiten nun möglicherweise maßgeblich dazu beitragen, in Zukunft lebensbedrohlich erkrankten Krebspatientinnen und -patienten zu helfen. Ich freue mich deshalb sehr über diese Nachricht und danke insbesondere den vielen Kolleginnen und Kollegen, Partnerinnen und Partnern, die dazu beigetragen haben.“

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