Biotechnologische Produktionsprozesse in Echtzeit anpassen

29.01.2016 - Deutschland

Die Industrie 4.0 erfordert eine durchgehende Datenerfassung, um hochautomatisierte Prozessabfolgen in komplexen Produktionsumgebungen zu steuern. Ein Beispiel dafür ist die Kultivierung lebendiger Zellen. Doch biotechnologische Produktionsanlagen zu digitalisieren und zu vernetzen, ist eine große Herausforderung. Es fehlt an entsprechenden Standards, und die Biologie hat eine eigene Dynamik. Mit einer vollautomatischen Anlage zum Generieren von Stammzellen ist es Fraunhofer-Forschern gelungen, die Prozesssteuerung an das Wachstum der Zellen anzupassen. Damit haben sie ein adaptives System entwickelt, das sich für viele Branchen eignet.

© Foto Bildschön GmbH

Die Innenansicht der StemCellFactory

Den Begriff Industrie 4.0 verbindet man mit der Fertigung von Autos, Maschinen oder Industriegütern. Wie die Kooperationspartner aus dem Verbundprojekt »StemCellFactory« zeigen, hält die umfassende Vernetzung von Maschinen und Produkten aber auch in der Biotechnologie Einzug. Das ist eine besondere Herausforderung, denn hier hat man es nicht mit fixen Bauteilen, sondern mit lebenden Objekten zu tun, die sich – anders als eine Schraube oder ein Zahnrad – verändern und vermehren. Eine vernetzte Steuerung muss damit zurechtkommen und den Prozess in Echtzeit anpassen können.

Die Partner haben im Projekt StemCellFactory eine vollautomatische Produktionslinie aufgebaut, um Stammzellen, die sich zu jedem Zelltyp des Körpers entwickeln können, zu vermehren. Experten nennen diese Zellen »induziert pluripotente Stammzellen« (iPS-Zellen). Forscher des Fraunhofer-Instituts für Produktionstechnologie IPT stellen die Produktionslinie auf der Hannover Messe vor. Die medizinische Expertise steuern unter anderem die Experten der Universitätskliniken Bonn und Aachen bei. Solche iPS-Zellen werden für die Entwicklung von Medikamenten in der individualisierten Medizin benötigt. Man gewinnt sie aus adulten Körperzellen wie etwa Haut- oder Blutzellen des Menschen. Zunächst entnimmt der Arzt einem Patienten Körperzellen. Anschließend werden diese durch Zugabe bestimmter Substanzen in iPS-Stammzellen reprogrammiert. Die Zellen lassen sich dabei in ein embryonales Stadium zurückversetzen und können theoretisch wieder in jeden Zelltyp umgewandelt werden. So kann man sogar Herz- oder Nervenzellen kultivieren, die sich wegen der Risiken für den Patienten nicht mit einer Biopsie gewinnen lassen. Die Pharmabranche verwendet diese Zellen für Medikamententests. Da sie das Erbgut des Patienten in sich tragen, lässt sich sehr gut feststellen, welche Medikamente Wirkung zeigen.

Vollautomatisierte, modulare Produktionsplattform

Bislang werden iPS-Zellen in einem langwierigen und aufwändigen Prozess von fachkundigen Laboranten gezüchtet. Dabei hängen die Menge und die Qualität der gezüchteten iPS-Zellen sehr von der Erfahrung des Laboranten ab. Das Ziel des Projekts war es daher, eine vollautomatische und modular aufgebaute Anlage zu entwickeln, die einen hohen Durchsatz bei gleichbleibend hoher Stammzell-Qualität erreicht. Die Entwicklung und Steuerung dieser Anlage war Aufgabe der Experten vom IPT. Diese hatten mehrere Herausforderungen zu meistern: Die erste Hürde bestand darin, dass sie verschiedene biotechnologische Geräte miteinander vernetzen mussten, um diese überhaupt von einer Leittechnik steuern zu können – einen Pipettierroboter, ein Mikroskop, einen Brutschrank oder auch das automatische Magazin, in dem Zellen und Behälter aufbewahrt werden. »Trotz der Bestrebungen der Industrie, einheitliche Schnittstellen für Laborautomatisierungsgeräte zu etablieren, gibt es bisher für die verwendeten Geräte keinen internationalen Standard, um sie zu vernetzen«, sagt IPT-Entwickler Michael Kulik. »Plug and play ist damit nicht möglich. Wir mussten deshalb zunächst einen eigenen Standard entwickeln, um alles zu integrieren.«

Auf diese Weise wurde eine sehr gute Vernetzung erreicht, die es der Leittechnik und den Geräten erlaubt, Informationen auszutauschen. Das wiederum war die Voraussetzung dafür, dass sich die Anlage sehr flexibel an die biologischen Vorgänge anpassen kann. Entscheidend ist hier vor allem das Wachstum der Zellen. Wachsen diese in den Zellkulturgefäßen heran, teilen sie sich nach und nach. Damit es im Gefäß nicht zu eng wird, muss der Pipettierroboter die Zellen von Zeit zu Zeit auf eine größere Anzahl frischer, leerer Zellkulturgefäße verteilen.

Das am IPT entwickelte Mikroskop überprüft hierzu in regelmäßigen Abständen die Wachstumsdichte in den Zellkulturgefäßen. Ist eine kritische Dichte erreicht, gibt das Mikroskop den Befehl, die Zellen zu versetzen. »Damit entscheidet das Produkt, also die wachsenden Stammzellen, über den Ablauf des Gesamtprozesses«, sagt Kulik. Oder anders: Die Produktion ist in der Lage, sich an den aktuellen Zustand anzupassen.

Dem Anwender der Anlage wird die Benutzung erleichtert, indem er auf einer Bedienoberfläche jedes einzelne Gerät über einen Knopf ansteuern kann. Um bei Bedarf die Prozessschritte der Anlage zu ergänzen oder zu verändern, genügt es, vorprogrammierte Befehlsbausteine in das Steuerungsmenü zu ziehen oder entsprechend daraus zu löschen. Je nach Wunsch können die Mitarbeiter die Anlage vollautomatisch oder im Handbetrieb fahren.

Die im Projekt StemCellFactory entwickelte Technologie lässt sich auch auf andere Anwendungen übertragen, etwa das Tissue-Engineering und damit die Produktion von Gewebemodellen. Möglich wäre auch die vollautomatisierte Fertigung von Zahnrädern, Schrauben, Motoren etc. Die Software ist skalierbar und eignet sich für kleinere und größere Produktionsanlagen. Da die Programmierung sehr flexibel ist, lässt sich die Steuerungstechnik auch auf jede andere Produktionsanlage übertragen, bei der eine adaptive Steuerung auf Basis aktueller Messdaten gefragt ist. Während der Hannover Messe können Besucher live sehen, wie die StemCellFactory aus der Ferne, konkret aus Bonn, gesteuert wird

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