Gendefekt des Dystonie-Parkinson-Syndroms löst Halbseitenlähmungen im Kleinkindalter aus

Wissenschaftler der Universitätsmedizin Göttingen finden die genetische Ursache der alternierenden Hemiplegie des Kindesalters

13.09.2012 - Deutschland

Plötzlich ist eine halbe Körperseite gelähmt - da denken Ärzte häufig sofort an einen Schlaganfall. Doch wenn Halbseitenlähmungen bei Kindern auftreten, kann dies eine ganz andere Ursache haben: Die "alternierende Hemiplegie des Kindesalters" ("Alternating Hemiplegia of Childhood", AHC) ist eine sehr seltene neurologische Erkrankung. Die Krankheit tritt sporadisch auf und wird nicht vererbt. Die Ursache für diese schwerwiegende Bewegungs- und Entwicklungsstörung im Kindesalter konnte jetzt ein Forscherteam der Universitätsmedizin Göttingen unter Leitung der Abteilung Neuropädiatrie der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin (Direktorin: Prof. Dr. Jutta Gärtner) der Universitätsmedizin Göttingen in Zusammenarbeit mit dem Cologne Center for Genomics (CCG) der Universität Köln und zeitgleich mit einer amerikanischen Arbeitsgruppe der Duke Universität Durham aufdecken. Sie haben einen genetischen Defekt im ATP1A3-Gen gefunden.

"Der genetische Defekt im ATP1A3Gen erklärt die Beschwerden, die für die Erkrankung im Kindesalter typisch sind", sagt Prof. Dr. Knut Brockmann, Leiter des Sozialpädiatrischen Zentrums der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin an der Universitätsmedizin Göttingen. Neben wiederkehrenden Halbseitenlähmungen haben manche Patienten auch andere Bewegungsstörungen wie Dystonien und Störungen der Augenbewegung sowie Einschränkungen in ihrer Kognition. Betroffene Patienten erholen sich von den typischen Lähmungen nach einiger Zeit oder auch durch Schlaf.

Das Gen, das all das verursacht, liegt auf Chromosom 19 und kodiert für eine Natrium-Kalium-Pumpe. Diese ist im Gehirn für die Informationsweiterleitung unabdingbar, weil sie für den Transport von Salzen aus und in die Nervenzelle mitverantwortlich ist. Zeigt diese Pumpe ein Funktionsdefizit, dann können die Signale nicht mehr in normaler Art und Weise weitergeleitet werden. In der Folge stellen sich schwerwiegende Bewegungsstörungen und Störungen der kognitiven Funktionen ein.

Für ihre Forschungen haben die Wissenschaftler der UMG bei drei betroffenen Familien mittels "Next Generation Sequencing" (Trio-Sequenzierung) das gesamte Erbgut der gesunden Eltern mit dem Erbgut des erkrankten Kindes verglichen. Dabei konnten Mutationen im ATP1A3-Gen nachgewiesen werden, die nur bei den erkrankten Kindern, nicht jedoch bei ihren Eltern vorlagen. Anschließend ließ sich bei allen untersuchten Patienten mittels herkömmlicher Sequenzierverfahren ("Sanger-Sequenzierung") eine Mutation im ATP1A3-Gen nachweisen und damit das ATP1A3-Gen als krankheitsassoziiertes Gen für die alternierende Hemiplegie des Kindesalters bestätigen.

Gen-Defekt wirkt milder im Alter: Dystonie-Parkinson-Syndrom bei Erwachsenen

Mutationen im ATP1A3-Gen wurden bereits im Jahr 2004 als Ursache für eine andere, erst im Erwachsenenalter auftretende Erkrankung mit schwerwiegender Bewegungsstörung beschrieben: das Dystonie-Parkinson-Syndrom mit raschem Beginn ("Rapid Onset Dystonia Parkinsonism", RDP; DYT12). Die Göttinger Wissenschaftler konnten jetzt zeigen, dass die alternierende Hemiplegie im Kindesalter und das Dystonie-Parkinson-Syndrom bei erwachsenen Menschen durch ein und denselben Gendefekt verursacht werden. Auffällig ist: Einige der klinischen Symptome dieser beiden Erkrankungen gleichen sich. Beide Erkrankungen beginnen schlagartig mit einer Bewegungsstörung. Emotionaler Stress gilt als Auslöser.

"Aufgrund der überlappenden klinischen Symptome und vor allem der gemeinsamen molekularen Ursache ist jetzt davon auszugehen, dass es sich hier nicht um zwei unterschiedliche Erkrankungen handelt", sagt Prof. Dr. Jutta Gärtner, Senior-Autorin der Studie und Direktorin der Abteilung Neuropädiatrie der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin an der Universitätsmedizin Göttingen. "Beide Erkrankungen sind als eine ATP1A3-assoziierte Bewegungsstörung anzusehen, die in unterschiedlicher klinischer Ausprägung auftreten kann. Die alternierende Hemiplegie im Kindesalter ist dabei die schwerste Form der Erkrankung. Das Dystonie-Parkinson-Syndrom mit raschem Beginn ist eher eine mildere Variante, die erst im Erwachsenenalter auftritt. Patienten mit Erkrankungsformen zwischen diesen beiden, d.h. mit zunächst wechselseitigen Lähmungen in der frühen Kindheit und einem später einsetzenden Dystonie-Parkinson-Syndrom, sind bereits in der Literatur beschrieben worden."

Die Identifizierung der primären genetischen Ursache der alternierenden Hemiplegie des Kindesalters und der Nachweis der genetischen und klinischen Überlappung mit dem Dystonie-Parkinson-Syndrom sind von entscheidender Bedeutung. Durch weitere grundlagenwissenschaftliche Untersuchungen wollen die Göttinger Forscher nun im Detail die Krankheitsmechanismen der alternierenden Hemiplegie des Kindesalters mit Hilfe von Zell- und Mausmodellen besser verstehen und klären. Sie versprechen sich neue Erkenntnisse zur Therapieentwicklung nicht nur für die betroffenen Kinder, sondern auch für die erst im Erwachsenenalter auftretenden milderen Erkrankungsformen der ATP1A3-assoziierten Bewegungsstörungen wie das Dystonie-Parkinson-Syndrom.

Die "alternierende Hemiplegie des Kindesalters" ("Alternating Hemiplegia of Childhood", AHC) ist eine sehr seltene neurologische Erkrankung. Sie tritt überwiegend sporadisch auf, d.h. keiner der beiden Elternteile oder andere Familienmitglieder sind von der Erkrankung betroffen. 1971 wurde die Erkrankung erstmalig bei acht Kindern beschrieben. Bei diesen wurden bereits im ersten Lebensjahr anfallsartig Halbseitenlähmungen beobachtet, die mal die eine und mal die andere Körperhälfte betreffen. Neben den wiederkehrenden Halbseitenlähmungen weisen die Patienten auch andere Bewegungsstörungen wie Dystonien und Augenbewegungsstörungen auf und haben eine im Verlauf zunehmende kognitive Beeinträchtigung.

Originalveröffentlichung

Hendrik Rosewich et al.; Heterozygous de-novo mutations in ATP1A3 in patients with al-ternating hemiplegia of childhood: a whole-exome sequencing gene-identification study. In: The Lancet Neurology 2012;11:764-773. Epub 2012 July 29.

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