Medizintechnik – Ein rettender Anker für volatile Industrien

22.05.2012 - Deutschland

In Zeiten großer wirtschaftlicher Unsicherheiten wird die Volatilität einiger Industrien besonders deutlich. Viele Unternehmen der Automobil-, Halbleiter- oder auch Logistikindustrie werden durch ein stark abkühlendes Konsumklima häufig in existenzbedrohliche Situationen gebracht.

Ein Beispiel eines Unternehmens, das frühzeitig ihr volatiles Geschäft ausgeglichen hat, ist die kalifornische Firma Agilent. Agilent ist ein renommiertes Unternehmen im Bereich elektronischer Messtechnik, das im Jahr 2000 die Geschäftsbereiche „Life Science“ und „Chemical Analysis“ gründete. Diese haben entscheidend dazu beigetragen, das Unternehmen trotz des Einbruchs im Bereich elektronischer Messsysteme während der Finanzkrise profitabel zu halten. Dieses und weitere Beispiele verdeutlichen die wachsende Bedeutung der Medizintechnik als attraktiven, aber stabilen Markt mit geringer Volatilität für Industriegruppen aus verschiedensten Bereichen. Doch welche Faktoren machen diesen Markt so attraktiv und welche Industrien können von einer Expansion in die Medizintechnik profitieren?

Hohe Wachstumsraten und Innovationskraft

Der globale Medizintechnikmarkt wurde 2011 auf 273 Mrd. US$ beziffert und zeigte über die letzten Jahre hohe Wachstumsraten von ca. 8%. Der US Markt ist hierbei mit Abstand der größte Einzelmarkt gefolgt von Japan und Deutschland. Obwohl der chinesische Medizintechnikmarkt bisher vergleichsweise klein ist, wird bis 2016 nahezu eine Verdopplung der Marktgröße gegenüber 2011 erwartet.

Deutschland verfügt über eine herausragende Stellung in der Medizintechnik, was sowohl durch robuste Wachstumsraten als auch durch die hohe Innovationskraft deutscher Medizintechnikunternehmen deutlich wird. Zuletzt wurde im deutschen Medizintechniksektor 9% des generierten Umsatzes in Forschung und Entwicklung investiert, verglichen mit durchschnittlich 4% in anderen Industrien.

Zudem ist Deutschland in Europa führend im Export von Medizintechnikprodukten und erzielt zwei Drittel seiner Umsätze im Ausland.

Profitabilität und Stabilität

Medizintechnikunternehmen gelten als profitabel und zeichnen sich durch eine durchschnittliche Nettoumsatzrendite von ca. 14% aus. Ein gängiges Geschäftsmodell hierbei ist das „Razor-Blade Model“, bei dem ein Großteil der Profite nicht durch den Verkauf medizintechnischer Geräte, sondern durch den Verkauf der dazugehörenden Verbrauchsmaterialen generiert wird. Das prominenteste Beispiel hierfür sind Systeme zur Blutzuckerbestimmung, bei denen 90% des Umsatzes mit Teststreifen erwirtschaftet wird und die eigentlichen Testgeräte häufig kostenlos abgegeben werden. Ähnliche Konzepte finden sich u.a. auch bei verschiedenen molekularen Diagnostiktests und sogar bei chirurgischen Robotersystemen.

Die Auswirkungen der Finanzkriese waren zwar auch im Medizintechnikmarkt spürbar, fielen jedoch deutlich milder aus als in anderen Industrien. Neben Agilent ist auch die Carl Zeiss AG ein gutes Beispiel für ein diversifiziertes Unternehmen, das seinen Verlust während der Finanzkrise 08/09 durch die stabilen Umsätze im Medizintechniksektor abfedern konnte. Insbesondere das sehr volatile Geschäft im Halbleitersektor konnte Carl Zeiss durch das stabile Medizintechnikgeschäft ausgleichen.

Neue Player dringen in den Markt

Robustes Wachstum und Stabilität sind einige der maßgeblichen Gründe für das verstärkte Engagement von vielen Unternehmen und Industriegruppen im Medizintechnikmarkt. Betrachtet man die großen Akquisitionen der Branche in den letzten 10 Jahren, so finden sich neben Käufern aus dem Medizintechniksektor und Finanzinvestoren auch verstärkt Pharmafirmen, Industriekonglomerate, Distributoren, Elektronikunternehmen und Dienstleister. Das starke Engagement der Pharmaindustrie für eine Expansion in den Medizintechnikmarkt leitet sich neben der Verbreiterung ihrer Produktpalette u.a. auch aus dem zunehmend schwierigen Geschäftsumfeld im traditionellen Pharmamarkt ab. Die Pharmabranche leidet unter auslaufenden Patenten diverser „Blockbuster“ Medikamente und einer Innovationslücke in der Pipeline. Folglich bietet der Medizintechnikmarkt eine attraktive Gelegenheit zur Diversifikation, was zu einer verstärkten Verschmelzung dieser beiden Sektoren führt. Neben der Pharmaindustrie zeigen auch andere Industrien wie Elektronikunternehmen und Automobilzulieferer aufgrund der hohen Volatilität ihrer Kerngeschäfte vermehrte Anzeichen zur Expansion in den Medizintechnikmarkt. Ein Beispiel hierfür ist die traditionell in der Entwicklung von Automobilkomponenten und Industrietechnik verwurzelte Robert Bosch GmbH, die 2009 erstmalig auf der weltgrößten Medizintechnikmesse MEDICA Innovationen präsentierte.

Sehr hohe Multiples in der Medizintechnik

Die aktuelle Attraktivität des Medizintechnikmarkts spiegelt sich in vergleichsweise hohen Preisen für Firmenakquisitionen in der Branche wieder. Der EV/EBITDA Multiple (EV: Enterprise Value; EBITDA: Earnings Before Interest, Taxes, Depriciation and Amortization) ist eine der Messgrößen, die von Investoren benutzt wird, um attraktive Übernahmekandidaten zu identifizieren. Bei einer branchenübergreifenden Analyse des mittleren EV/EBITDA liegt die Medizintechnikbranche vor der Finanz- und IT-Branche mit einem Multiple von 16,6 an erster Stelle.

Die Investoren haben also längst die in diesem Artikel beschriebenen Vorzüge der Medizintechnik verstanden und sind daher bereit, einen hohen Preis für den Markteintritt und Marktausbau zu bezahlen. Ein Extrembeispiel hierfür ist die Akquisition des US Medizintechnikherstellers Alcon Inc. durch den Pharmakonzern Novartis AG für 51,3 Mrd. US$.

Fazit und Ausblick

Die Medizintechnik ist ein attraktiver Markt mit geringer Volatilität, überdurchschnittlichen Margen und interessanten Geschäftsmodellen. Vor allem für Hightechunternehmen oder Unternehmen mit hoher Forschungsintensität kann eine Expansion in die Medizintechnik eine sinnvolle Erweiterung ihres Produktportfolios bedeuten. Die häufig hohen regulatorischen Auflagen bei der Zulassung der Produkte bedeuten einen Nachteil, falls ein schneller Markteintritt geplant ist, aber einen Vorteil, durch den Aufbau von Markteintrittsbarrieren weitere Wettbewerber auf Distanz zu halten. Novumed Life Science Consulting hat einen Medtechatlas mit mehr als 600 Marktsegmenten in der Medizintechnik erstellt. Der Markt ist sehr fragmentiert und es gibt neben Geräten und Verbrauchsmitteln, Diagnostika und Therapieanwendungen eine Vielzahl von Möglichkeiten in den Markt einzusteigen. Ob ein Transfer der existierenden Technologien oder die Akquisition von Medizintechnikunternehmen die bessere Strategie ist, sollte sehr behutsam analysiert werden.

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