Seuchen auf Reisen

Wie das menschliche Reiseverhalten die Ausbreitung von Seuchen beeinflusst

29.08.2011 - Deutschland

Ob SARS, Schweine- oder saisonale Grippe – in der globalisierten Welt können sich Infektionskrankheiten durch reisende Menschen leicht über den gesamten Erdball ausbreiten. Um auf diese Gefahr gezielter reagieren zu können, versuchen Wissenschaftler, Ausbreitungswege und -geschwindigkeit solcher so genannter Pandemien vorherzusagen. Forschern des Max-Planck-Instituts für Dynamik und Selbstorganisation (MPIDS) in Göttingen, der Universität Göttingen, der Northwestern University und des Massachusetts Institute of Technology (MIT) in den USA ist es nun erstmals gelungen, das individuelle Bewegungs- und Reiseverhalten einzelner Personen in ihren mathematischen Modellen zu berücksichtigen. Die neuen Rechnungen zeigen nicht nur, dass ältere Modelle die Ausbreitungsgeschwindigkeit deutlich überschätzt hatten. Auch die bisher bekannten Kriterien für den globalen Ausbruch einer Krankheit müssen erweitert werden.

© MPI für Dynamik und Selbstorganisation

Mobilitätsnetzwerke bestimmen die Ausbreitung von Epidemien.

© MPI für Dynamik und Selbstorganisation

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Die wichtigste und zugleich komplexeste Unbekannte bei Vorhersagen über die Ausbreitung einer Seuche ist der Mensch. Denn alles hängt davon ab, welche Wege eine infizierte Person zurücklegt; wo sie auf weitere Menschen trifft, die sie anstecken könnte. Tritt eine erkrankte Person beispielsweise einen Langstreckenflug an, ergibt sich ein völlig anderes Bild, als wenn sie lediglich ins Nachbardorf fährt. „Bisher wurde das Bewegungsverhalten der Menschen in den Modellen recht grob berücksichtigt, weil man nicht wusste, wie man dies mathematisch besser erfassen könnte“, erklärt Theo Geisel, Direktor am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation. „In unserem Modell können wir nun erstmals die Mitglieder einer Population als Individuen mit unterschiedlichem Reiseverhalten beschreiben.“

Ältere Modelle umgingen dieses Problem. Sie nahmen vereinfachend an, dass sich eine Infektion nach den Gesetzen der Diffusion ausbreitet – also ähnlich wie ein eingefärbtes Gas, das aus einem Behälter entweicht. „Dass in der globalisierten Welt aber neben kurzen Reisen auch solche über weite Strecken möglich sind, berücksichtigten diese Modelle nicht“, so Dirk Brockmann von der Northwestern University. Doch selbst jüngere Ansätze, die interkontinentale Reisen einbeziehen, bilden nicht alle Aspekte menschlichen Reiseverhaltens ab. Denn die Mitglieder einer Population wurden bisher nicht als Individuen mit eigenen Reisezielen betrachtet. Stattdessen nahmen die Modelle vereinfachend an, dass im Laufe der Zeit jede Person alle erreichbaren Orte aufsucht.

Neue Studien, welche die Grundlage der jüngsten Berechnungen bilden, untermauern ein anderes Verhalten mit Daten. Die meisten Menschen suchen nur wenige Orte außerhalb der eigenen Wohnung regelmäßig auf, etwa den Arbeitsplatz, den nahe gelegenen Supermarkt oder den Kindergarten. Ein Besuch etwa bei Verwandten im nächsten Bundesland findet deutlich seltener statt, die Fernreise nach Mexiko ist eine Ausnahme. Und die allermeisten Ziele steuern die meisten Menschen nie an. Für jedes Individuum ergibt sich so ein eigenes Mobiltätsnetzwerk, das sich aus der begrenzten Anzahl seiner Reiseziele zusammensetzt.

In ihren Modellen setzten die Forscher nun individuelle sternförmige Netzwerken an: Ausgangspunkt einer jeden Reise ist die eigenen Wohnung. Vor der Rückkehr dorthin wird nur ein Ziel angesteuert. „Gerade dieses Rückkehren an den Ausgangsort wurde in bisherigen Modellen nicht berücksichtigt“, so Vitaly Belik, der am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation und am MIT forscht. Der neue Ansatz liefert ein kompliziertes System von Gleichungen, welches die Forscher mithilfe trickreicher Mathematik und in aufwändigen Computersimulationen untersuchen konnten.

Nicht die Häufigkeit, sondern die Dauer von Reisen ist entscheidend

„Unsere Rechnungen zeigen, dass mit zunehmender Mobilität der Individuen die Ausbreitungsgeschwindigkeit einer Krankheit nicht – wie bisher angenommen – immer weiter anwachsen kann“, so Geisel. Schließlich verändere ein höheres Reiseaufkommen nicht die grundsätzliche Beschaffenheit der Netzwerke. Und ob eine Person beispielsweise den Weg zur Arbeit einmal oder zweimal am Tag zurücklegt, beeinflusst die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Epidemie nur wenig. Ältere Modelle hatten deshalb die Schnelligkeit der Ausbreitung von Seuchen erheblich überschätzt.

Neue Erkenntnisse ergaben sich auch für die Kriterien, die erfüllt sein müssen, damit eine Epidemie von einer Population auf eine weitere überspringt – also sich etwa von einem Kontinent auf den nächsten ausbreitet. „Bisher hatte man geglaubt, dass allein die Häufigkeit von Fernreisen ausschlaggebend ist“, so Brockmann. Doch nun zeigt sich vielmehr eine bedeutendere Abhängigkeit: Die Dauer der Reisen spielt eine entscheidende Rolle. Erst wenn die mittlere Dauer der Abwesenheit einen bestimmten Wert überschreitet, kann aus der Epidemie eine globale Pandemie werden. „Es kommt also gewissermaßen nicht darauf an wie oft man reist, sondern wie lange man unterwegs ist“, so die Wissenschaftler.

Originalveröffentlichung

Vitaly Belik, Theo Geisel, Dirk Brockmann; Natural Human Mobility Patterns and Spatial Spread of Infectious Diseases; Physical Review X, 8. August 2011

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