Anders als Süßwassereis bildet Meerwasser beim Gefrieren ein halbfestes, sprödes Material, durchzogen von einem Netzwerk feiner Kanäle
und Poren. Sie sind einige Mikrometer bis einige Millimeter groß und mit Salzsole gefüllt, die sich bildet, wenn die Eiskristalle
zusammenfrieren.
Die physikalischen und chemischen Eigenschaften des Meereises werden an der Oberseite durch die Atmosphäre bestimmt und an der
Unterseite durch das Meerwasser. Hierdurch wird das Meereis zu einer Grenzschicht zwischen Atmosphäre und Ozean mit großen
Unterschieden in
Temperatur, Salzgehalts, Raum und Licht. Die Temperaturen können an der Oberseite bis zu -20°C erreichen und an der
Unterseite auf -1.8°C ansteigen. Dabei ändert sich der Salzgehalt der Sole von 200ppt auf 38ppt bei gleichzeitiger Vergrößerung der
Solekanäle an der Unterseite. Der Großteil des eingestrahlten Lichtes wird durch den Schnee und das Eis an der Oberfläche reflektiert. Der
eindringende Teil nimmt dann mit zunehmender Tiefe rasch ab. Nur maximal 5% des einfallenden Lichtes gelangt so an die Unterseite.
Die meisten Organismen des Meereises wie
Viren,
Bakterien,
Algen, Protisten, Würmer und kleine Krebse gelangen während der
Meereisbildung im Herbst in das Eis. Die aufsteigenden Eiskristalle sammeln diese
Mikroorganismen aus dem
Wasser und schließen sie in die
Solekanäle oder Taschen ein. Aber nur solche Organismen können sich in diesem Lebensraum vermehren, die an diese extremen
Bedingungen angepasst sind. Die erfolgreichsten und gleichzeitig auffälligsten Organismen sind Kieselalgen (Diatomeen), die an diese
geringen Lichtintensitäten gut angepasst sind und mit ihren photosynthetischen Pigmenten das Eis braun färben. Sie sind eine wichtige
Nahrungsgrundlage für den Antarktischen Krill, der sich hauptsächlich im Winter von ihnen ernährt.
Die Anpassung an die tiefen Temperaturen ist eine wichtige Voraussetzung für alles Leben im Meereis. Die meisten Organismen sind bei
Temperaturen von über +15°C nicht mehr lebensfähig. Die Gefahr des Einfrierens besteht durch den Entzug von freiem Wasser in den
Zellen
bei gleichzeitig hohem Salzgehalt der Sole. Unter diesen Bedingungen produzieren die Organismen Osmolyte, mit denen ein Wasserentzug
verhindert werden kann.
Ein interessanter Osmolyt und Gefrierschutzstoff bei Meereisalgen ist Dimethylsulfoniumproprionat (DMSP), die Vorstufe des flüchtigen
Dimethylsulfides (DMS). DMS gelangt nach Abspaltung von DMSP aus dem Meereis in die Atmosphäre, wo es zu SO3 und Sulfonaten
oxidiert wird. Diese wirken als Kondensationskeime für die Wolkenbildung und beeinflussen dadurch direkt die Regulation des Klimas.
Neben den Osmolyten sind besonders kälteangepasste
Enzyme mit hoher katalytischer Aktivität bei niedrigen Temperaturen für die
Frostresistenz verantwortlich. Auch ein hoher Anteil an mehrfach ungesättigten
Fettsäuren (PUFAs) ist eine wichtige Voraussetzung für die
Kälteanpassung. Hierdurch wird die Fluidität der Zellmembranen auch noch bei sehr niedrigen Temperaturen gewährleistet. Das ist besonders
für den
Transport von Nährstoffen und für die Funktion membrangebundener Enzyme wichtig.
Nicht nur intrazellulare Anpassungen spielen eine wichtige Rolle im Leben der Meereisorganismen. Viele Meereisdiatomeen sondern so
genannte Eisaktive-Substanzen ab, zu denen beispielsweise Glycoproteine gehören, mit denen sie die Oberflächen und die optischen
Eigenschaften der Eiskristalle verändern können, von denen sie umgeben werden. Auch Polysaccharide werden ausgeschieden, die einer Art
Schutzfilm um die Zellen bilden.
Diese physiologischen Fähigkeiten ziehen in den letzten Jahren die Aufmerksamkeit von Biotechnologen und Pharmazeuten auf sich, die
besonders die kälteangepassten Enzyme und die mehrfach ungesättigten Fettsäuren für den Menschen nutzen wollen. Neben diesen
angewandten Aspekten bleibt die Frage, wie sehr sich das gesamte Ökosystem der Polarregionen durch eine Veränderung der
Meereisausdehnung aufgrund einer Klimaerwärmung ändern wird. Es ist anzunehmen, dass sich dadurch auch die Verbreitung der
Meereisorganismen ändert, was besonders in der Antarktis bedeutende Konsequenzen für den Krill hat, der im Meereis seine
Nahrungsgrundlage findet.
Nicht nur auf der Erde rücken die Meereisorganismen in den Focus der Wissenschaft. Die Entdeckung der eisbedeckten Ozeane auf den
Jupitermonden Europa und Ganymed treiben Astrobiologen zu enthusiastischen Vorstellungen, dass dieses Eis vielleicht auch
Mikroorganismen enthalten könnte. Braun gefärbte Eisschollen auf Europa wecken sehr schnell die Erinnerung an mit Diatomeen besiedeltes
Meereis. Doch dieses extraterrestrische Eis ist zwischen 10 und 100km dick bei Temperaturen weit unter - 20°C. Falls dort wirklich
Lebensformen existieren oder existierten, scheint es sehr unwahrscheinlich, dass es die gleichen sind wie im Meereis unserer heutigen Erde.
Das Wissenschaftsmagazin Science rückt das Thema "Lebensraum Meereis" in seiner aktuellen Ausgabe auf die Titelseite. Dr. David
Thomas von der University of Wales-Bangor und Dr. Gerhard Dieckmann vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung
(AWI) sind Verfasser des Übersichtsartikels "Antarctic Sea Ice - Habitat for Extremophiles"