Unterbrechung klinischer Studien mit retroviralem Gentransfer

04.10.2002

Gemeinsame Pressemitteilung des Paul-Ehrlich-Instituts und der Bundesärztekammer

Die Bundesärztekammer und das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) halten die im Juni 2002 angeregte Unterbrechung klinischer Studien mit retroviralem Gentransfer aufrecht. Bis zu einer weiteren Entscheidung sollten keine weitere Patienten mit retroviral modifizierten Zellen behandelt werden. Dies war das Ergebnis der Diskussion im Rahmen eines internationalen Expertentreffens am Dienstag, 17. September 2002, im Paul-Ehrlich-Institut in Langen, zu dem die 'Kommission Somatische Gentherapie' (KSG) des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer und das PEI eingeladen hatten.

Die Expertenrunde hatte zum Ziel, mögliche Risiken bestimmter Gentherapieverfahren neu einzuschätzen und Konsequenzen für klinische Gentherapie-Prüfungen in Deutschland zu diskutieren. Im Zentrum der Diskussion standen die Veränderung von Zellen mittels retroviraler Vektoren sowie die Verwendung des sogenannten delta-lngfr-Gens ("delta low affinity nerve growth factor receptor") bei Lymphozyten und Blutstammzellen. Das delta-lngfr-Gen dient dazu, Blutzellen, die erfolgreich mit einem therapeutischen Gen modifiziert wurden, anzureichern, bevor sie auf den Patienten übertragen werden.

Auslöser war ein Bericht der Arbeitsgruppe von Prof. Christopher Baum an der Medizinischen Hochschule in Hannover. Mäuse, denen mittels retroviraler Vektoren delta-lngfr-modifizierte Blutzellen übertragen worden waren, hatten eine Krankheit entwickelt, die mit der Akuten Myeloischen Leukämie (AML) vergleichbar ist.

Der Einladung von KSG und PEI waren Behördenvertreter, medizinische Fachleute und die mit diesen Genfähren arbeitenden Leiter klinischer Prüfungen in Deutschland gefolgt. Die Experten kamen zu dem Ergebnis, dass die vorliegenden tierexperimentellen Daten nur geringe Hinweise darauf geben, dass das delta-lngfr-Gen an der Entstehung von Leukämie bei Mäusen beteiligt ist. Sie werteten die vorliegenden Daten allerdings als eindeutiges Beispiel für das Auftreten einer Krebserkrankung als Folge des retroviralen Einfügens von Genen in das Genom von Körperzellen. Die Expertenrunde erörterte deshalb auch den internationalen Diskussionsstand hinsichtlich des Krebsrisikos nach retroviralem Gentransfer beim Menschen.

"Wir betrachten das Risiko der Leukämie-Entstehung nach retroviralem Gentransfer als gering, aber aufgrund der neuen Erkenntnisse als eindeutig gegeben. Für betroffene Patienten muss dieses Risiko gegen den erwarteten Nutzen der Gentherapie erneut abgewogen werden", erläuterte Prof. Dr. Klaus Cichutek, Vizepräsident des Paul-Ehrlich-Instituts und Vorsitzender der 'Kommission Somatische Gentherapie' nach Abschluss des Treffens. Danach werden KSG und PEI über die mögliche Weiterführung der Studien entscheiden.

Ganz allgemein müsse man das Nutzen-/Risikoverhältnis neu bewerten, wenn bei klinischen Prüfungen, in denen retrovirale Vektoren verwendet werden, Leukämien aufträten, so Cichutek." Die Risiken neuer Therapiestrategien wie der Gentherapie sind aufgrund mangelnder Erfahrung noch nicht abschliessend beurteilbar, weshalb sie auch für lebensbedrohlich erkrankte Patienten nur eingesetzt werden dürfen, wenn der Nutzen das Risiko deutlich überwiegt. Wenn das gesichert ist, muss die klinische Entwicklung jedoch weitergehen, damit innovative Behandlungsansätze klinisch erprobt werden können", betonte Cichutek.

Hintergrundinformation:

In Deutschland werden derzeit hauptsächlich für zwei Therapieformen klinische Prüfungen unter Verwendung des retroviralen Gentransfers durchgeführt, die jetzt unterbrochen wurden:

1. Behandlung der lebensbedrohlichen monogenen Erbkrankheit Chronische Granulomatose (CGD; "Chronic Granulomatous Disease"). Dabei werden eigene Blutstammzellen des Patienten übertragen, deren Gendefekt mittels retroviraler Übertragung des funktionellen Gens korrigiert wurde. Dies soll helfen, die angeborene Immunschwäche zu mildern oder zu heilen.

2. Unterdrückung von Abstossungskomplikationen bei der Behandlung von Leukämien durch Fremdspenderlymphozyten. Die Übertragung der Fremdspenderlymphozyten ist eine konventionelle Behandlung, die nach vorhergehender Chemotherapie und Stammzelltransplantation zu einer Unterdrückung der Leukämie führt (Spender-gegen-Leukämie Effekt). Allerdings kann als unter Umständen lebensbedrohliche Komplikation eine von den übertragenen Lymphozyten hervorgerufene, überschiessende immunologische Abwehrreaktion auftreten (Spender-gegen-Wirt Krankheit; GvHD). Wenn Fremdspenderlymphozyten verwendet werden, denen ein medikamentös aktivierbares, zellabtötendes Gen retroviral übertragen wurde, können diese Zellen bei Auftreten einer schwerwiegenden GvHD durch Gabe des spezifischen Medikaments im Körper abgetötet werden, so dass eine lebensbedrohliche Komplikation vermieden wird.

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