Anthrax ante portas – sind Europas Gesundheitssysteme dafür gerüstet?

30.09.2002
„Mit dem Bioterrorismus sind wir mit einer ganz neuen Gefahr konfrontiert“, sagte George Gouvras vom Generaldirektorat für Gesundheit und Konsumentenschutz der Europäischen Kommission. Biologische und chemische Kriegsführung sei nichts Neues. Früher sei es jedoch meist gegen Soldaten gegangen, „jetzt richtet sich diese Bedrohung auch gegen Zivilisten“, erläuterte der Experte für Gesundheitsschutz. Früher wären unbekannte Krankheiten durch Reisenden eingeschleppt worden. Jetzt schleppt sie vielleicht unwissentlich der Postbote ein, wenn er einen Anthrax-kontaminierten Brief zustellt. In Europa, wo es bislang keine Opfer zu beklagen gab, ist der Grund zur Sorge zwar geringer als in den USA. Vorsorge sollte dennoch getroffen werden. Schließlich, so Gouvras, kenne man die Täter und ihre Pläne bis heute nicht mit Sicherheit. Seit November 2001 arbeitet ein Expertenteam daran, die EU-Mitgliedsstaaten für alle Eventualitäten eines Ernstfalls zu rüsten. George Gouvras berichtete beim 5. European Health Forum Gastein, wie die Bevölkerung der EU künftig vor Milzbrand & Co geschützt werden soll. Im Kampf gegen Bioterror erfolgreich sein, heißt, sich die Apokalypse vorzustellen. Und dagegen anzudenken. Das ist der erste Schritt, der im Anti-Bioterror-Programm der EU, BICHAT (Langfassung: „programme on preparedness and response to biological and chemical agent attacks“), umgesetzt werden soll. BICHAT wurde etwa zwei Monate nach dem Anschlag auf die Twin Towers vom Health Security Committee (HSC) beschlossen, einem Ausschuss, der aus hochrangigen Gesundheitspolitikern aller EU-Staaten und dem EU-Kommissar für Gesundheit und Verbraucherschutz, David Byrne, besteht. BICHAT soll bis Ende 2003 in Theorie und Praxis umgesetzt sein. Phantasien vom Worst Case Scenarios Was ist also der erste Streich, wenn es darum geht, sich gegen Bioterror zu wappnen? „Wir sind gerade dabei, verschiedene pessimistische Szenarien von Bio-Attacken zu entwerfen“, beschrieb George Gouvras beim 5. European Health Forum Gastein einen Teilaspekt seiner Arbeit. Wie könnte ein Angriff aussehen? Wie viele Menschen könnten maximal betroffen sein? Was tun, wenn Krankheitserreger in einem vollen Fußballstadion verbreitet wird? Was, wenn an mehreren Orten gleichzeitig? Für die verschiedenen, differenzierten Bedrohungsszenarien liegt es dann an der Expertenkommission von BICHAT, Lösungsstrategien zu entwerfen. Neben der Rückverfolgbarkeit von Epidemien besteht eine Hauptaufgabe von BICHAT darin, einzelne nationale Katastrophenpläne EU-weit optimal aufeinander abzustimmen und für die nötige Koordination und schnellen, sicheren Informationsaustausch zu sorgen. „Wir haben Frühwarnsysteme entwickelt, die bei allen entscheidenden Stellen in der EU in kürzester Zeit Alarm schlagen“, erklärte Gouvras. Das sei notwendig, um alle EU-Mitgliedsstaaten sofort dazu in die Lage zu setzen, Präventivmaßnahmen zu ergreifen, um Expertenhilfe herbeizuholen, Proben zur Analyse in Speziallabors zu bringen und vor allem, um den Kontakt zwischen den verschiedenen Kooperationsinstitutionen zu halten. Der rasche Informationsaustausch bei Bioterror-Alarm müsse mit oder ohne Telekommunikation funktionieren. Bricht der Flugzeugverkehr zusammen, wie das nach dem 11. September der Fall war, so müssten immer alternative Verkehrsmittel zur Verfügung stehen. Die MOE-Staaten sind von den EU-Maßnahmen in Rahmen von BICHAT übrigens in Kenntnis gesetzt, doch noch nicht aktiv einbezogen. Noch gäbe es reale Grenzen, die notfalls gesperrt oder stärker kontrolliert werden könnten, meinte der BICHAT-Experte, während im freien Binnenmarkt Menschen, Tiere oder Pflanzen frei fluktuieren. Dadurch sei die Gefahr gegeben, dass sich Krankheitserreger besonders schnell ausbreiten. Einsatzbereitschaft bei Tag und Nacht Das Alarmsystem muss „sieben Tage pro Woche und 24 Stunden pro Tag aktivierbar sein“, beschrieb Gouvras das BICHAT-Programm weiter. Es müssten immer ausreichend Experten zur Verfügung stehen, um einem Anschlag entgegnen zu können. „Natürlich wird nicht jeder Dorfarzt über die Behandlung von seltenen oder gar unbekannten Krankheiten Bescheid wissen“, das sei utopisch, räumte der EHFG-Referent ein. Jeder Arzt müsse jedoch wissen, an welche Stelle er sich wenden könne, sobald sich ein Verdacht einstellt. Es müsste ein flächendeckendes Netz aus Experten aufgebaut werden: Ärzte, zum Beispiel, die sich auf die Behandlung von seltenen Krankheiten spezialisiert haben, oder Laboranten, die in der Lage sind, zwischen Hunderten von verschiedenen Anthrax-Sporen zu unterscheiden. Die entscheidendste Schwachstelle dürfte im Bereich der mikrobiologischen Diagnostik liegen, was die Heilungsaussichten für Kranke schmälert und eine realistische Einstufung eines Erregers erschwert. Medikamente auf Lager Mit dem BICHAT-Programm wird auch das Ziel verfolgt, stets Medikamentendepots parat zu haben, auf die man rasch international zugreifen kann. Das könnte etwa eine Apotheke sein, die dazu verpflichtet ist, jederzeit über eine gewisse Menge an Antibiotika oder Impfstoffe zu verfügen und bei Bedarf – wenn z.B. die Medikamente abgelaufen sind – zu erneuern. Diese Depots sollten zusätzlich auch für Tierepidemien wie Maul-und-Klauen-Seuche oder Schweinepest gerüstet sein. Von Seiten der EU würden dafür im Übrigen keine Mittel zur Verfügung gestellt, wohl aber Geld für die Fortbildung von Spezialkräften und für zusätzliche Forschung. „Für die Pockenimpfung, die in den USA für den Fall der Fälle verabreicht werden soll, wurden eigens ein neuer Impfstoff entwickelt, entsprechend dem neuesten Stand der Technik“, so Gouvras. Wichtig sei außerdem, gemeinsame Standards festzulegen. Bis vor kurzem gab es keine Verhaltensrichtlinien, keine festen Bestimmungen, wie eine ideale Schutzausrüstung auszusehen hat oder welchen Impfvorschriften die Helfer unterliegen. Bis Ende 2003 muss das BICHAT-Programm erfolgreich umgesetzt sein. In einigen Punkten ist das Plansoll der EU-Kommission schon erfüllt: Die pharmazeutische Industrie verfügt über genügend Produktionskapazitäten für Antibiotika für den Ernstfall. Positiven Seiten des Terrors Vielleicht ist es nicht einmal zynisch zu sagen, dass Bioterror oder die Möglichkeit darauf, auch seine guten Seiten hat. Eine EU-weite Koordination und Vernetzung nationaler Einrichtungen verspricht auch die Qualität des medizinischen Angebots im katastrophenfreien Alltag zu heben. In den USA hat die Regierung Anfang Juni dieses Jahres mehr als zwei Dutzend Notprogramme gegen Bioterrorismus genehmigt. 1,7 Milliarden Euro sind damit in die amerikanischen Gesundheitssysteme geflossen mit dem Ziel, Gesundheitsbehörden zu einer engeren Zusammenarbeit zu bringen, Ärzte besser auszubilden und die Bevölkerung gründlicher aufzuklären. Die investierte Summe bedeutete die höchste staatliche Zuwendung in der Geschichte des amerikanischen Gesundheitssystems. Abgesehen von der Terrorprävention dürften diese Programme einen gewaltigen Impuls für eine Verbesserung des öffentlichen Gesundheitssystems der USA bedeuten. Insgesamt hat die USA Mittel in der Höhe von zwei Billionen Dollar für Bioterror-Bekämpfung bereitgestellt. Wie hoch die EU-Ausgaben zu beziffern sind, ließe sich laut Gouvras noch nicht sagen. Das Geld komme aus vielen verschiedenen Töpfen, doch insgesamt „kann es sich nur um einen Bruchteil der US-Ausgaben handeln“.

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