Eigenwilliges Universalgenie - Vor 100 Jahren starb Rudolf Virchow Von Ulrike von Leszczynski, dpa

02.09.2002
Berlin (dpa) - Auf seinem schweren Eichenschreibtisch lagen die Totenschädel neben ledergebundenen Folianten und dem Mikroskop. Wenn Rudolf Virchow (1821-1902) einen Hörsaal betrat, brachte er auf einem kleinen Wagen immer eine Leiche zum Sezieren mit, die selten gut roch. Zum 100. Todestag des Pathologie-Pioniers am 5. September erinnert seine Heimatstadt Berlin aber nicht nur an den überragenden Arzt und Wissenschaftler, der mit seiner Zellforschung einen Grundstein der modernen Medizin legte. Berlin würdigt auch den fast vergessenen Politiker, Frühgeschichtler, Völkerkundler und Sammler Virchow. Eigenwillig und sehr bestimmend sei er gewesen, der Herr Geheimrat Virchow, schreiben seine Zeitgenossen. Mit gezwirbeltem Vollbart, Nickelbrille und kritischen braunen Augen mustert er noch heute jeden, der in der Universitätsklinik Charité sein Ölbild betrachtet. Am Schreibtisch hat der Maler Jürgen Vogel ihn posieren lassen, mit Schriften in den Händen und Büchern im Hintergrund - die Inkarnation des gelehrten Professors. Berühmt ist Virchows noch heute gültiger Satz: «Omnis cellula e cellula» - jede Zelle kann nur aus einer anderen Zelle entstehen. Diese Erkenntnis, die Virchow durch Untersuchungen mit dem Mikroskop und Leichenstudium gewann, war Mitte des 19. Jahrhunderts bahnbrechend. Sie stellte die Medizin auf ein naturwissenschaftliches Fundament und verhalf der Pathologie, der Lehre von den Krankheiten, als wissenschaftlicher Disziplin zum Durchbruch. Viele Ärzte, schreibt der Medizinhistoriker Cay-Rüdiger Prüll im frisch gedruckten Virchow-Jubiläumsband «Zwischen Charité und Reichstag», glaubten zu dieser Zeit noch an die antike Lehre vom Gleichgewicht der Körpersäfte. Sie kurierten Krankheiten mit Aderlass, Einläufen oder Brechmitteln, doch über die Ursachen der Leiden wussten sie wenig. Für den Charité-Professor Virchow war seine bald weltweit anerkannte «Zellularpathologie», die Erklärung von Krankheiten aus Zellveränderungen, keine rein medizinische Erkenntnis. Seit er als junger Arzt eine Fleckfieber-Epidemie («Hungertyphus») im armen Oberschlesien untersucht und als Ursache «menschenunwürdige Zustände» erkannt hatte, sah er in der Zelle auch etwas sehr Politisches. Der Staat sollte seinen Idealen entsprechend ein Verbund gleichberechtigter, unterschiedlich begabter Zellen - sprich Menschen - sein. Dieses liberale und demokratische Denken trieb Virchow im Revolutionsjahr 1848 auf die Berliner Barrikaden und später als Mitbegründer der Fortschrittspartei in die Kommunal-, Landes- und Reichspolitik. Als Sohn eines verarmten Landwirts aus Pommern engagierte er sich in erster Linie für Sozialpolitik. Die größten Früchte seines politischen Engagements konnte jedoch die Stadt Berlin ernten. Virchow, der als Arzt mit hygienischen Notwendigkeiten argumentierte, boxte in der seuchengeplagten Metropole eine Kanalisation, Markthallen, Schlachthöfe und moderne städtische Krankenhäuser durch. Hoch begabt und ehrgeizig pflegte der Professor darüber hinaus exklusive Hobbys, darunter die Vor- und Frühgeschichte. So reiste er mit seinem Freund Heinrich Schliemann nach Troja und überredete ihn, die archäologischen Funde dem Berliner Völkerkunde-Museum zu schenken. Das Museum Europäischer Kulturen verdankt Virchow eine umfangreiche Sammlung deutscher Volkskunst, das Medizinhistorische Museum schmückt sich mit seiner Präparate-Sammlung. Seinen 80. Geburtstag feierte Geheimrat Virchow hoch geehrt im Oktober 1901. Für die Auflistung seiner Schriften benötigte ein Freund mehr als 100 Seiten Papier, es waren 800 Titel aus der Medizin und 1800 Schriften zur Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte. Nur wenige Monate nach dem großen Fest stürzte Virchow aus einer Straßenbahn und erholte sich nicht mehr von seinen Verletzungen. Am 9. September 1902, berichteten die Zeitungen damals, säumten Tausende die Berliner Straßen, als Virchows Sarg zum Friedhof getragen wurde - es war ein Staatsbegräbnis ersten Ranges.

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