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Visuelle Wahrnehmung



 

Visuelle Wahrnehmung (Sehen) ist die Wahrnehmung von Objekten auf Grund der Reizung durch Lichtstrahlen, die von den Objekten ausgesandt, gebeugt oder reflektiert werden.

Die einfachste visuelle Wahrnehmung zeigen einzellige Lebewesen wie das Augentierchen (Euglena) mit einem lichtempfindlichen Fleck auf der Oberfläche. Damit ist zumindest eine allgemeine Helligkeitswahrnehmung möglich, aber durch Drehbewegungen des Körpers auch bereits eine Richtungsorientierung (Phototaxis). Die weiteren Entwicklungen führt zu Becheraugen, Punktaugen und Facettenaugen der Gliedertiere sowie Linsenaugen bei den Wirbeltieren und den Weichtieren. Dementsprechend wird auch eine zunehmend detailliertere Bildwahrnehmung möglich, die bei einer parallelen Zweiäugigkeit auch eine Wahrnehmung der Raumtiefe umfasst. Ferner entstehen mit zunehmender Differenzierung der Sehorgane auch Fähigkeiten zur Wahrnehmung unterschiedlicher Wellenlängen des Lichtes, das Farbensehen. Unterschiedliche zeitliche Auflösung der Lichteindrücke ermöglicht auch die Wahrnehmung von Bewegung von Objekten.


Inhaltsverzeichnis

Neurobiologische Betrachtung der visuellen Wahrnehmung bei Wirbeltieren

Strahlenbrechung: Das Wirbeltier-Auge enthält ein Linsensystem, das alle von einem Punkt ausgehenden Strahlen auf einen Punkt der Netzhaut ("Retina") zusammenführt und so auf dieser ein umgekehrtes Bild der Umwelt projiziert. Die stärkste Lichtbrechung findet beim Lichteintritt aus der Luft in die Hornhaut (Cornea) statt. Zur Veränderung der Brennweite lässt sich die dahinter liegende Linse verformen. Kurzfristige Änderungen der Lichtintensität können durch eine Veränderung der Pupillengröße durch eine Veränderung der Iris ausgeglichen werden. Bei längerfristiger Änderung der Lichtverhältnisse kommt es zu einer Anpassung (Adaptation) der Photorezeptoren an die höchste Leuchtdichte im Gesichtsfeld. Das Licht unterschiedlicher Wellenlängen wird unterschiedlich stark gebrochen (chromatische Aberration), weshalb sich das Auge in der Regel auf die Brennweite für grünes Licht einstellt und Farben räumlich zunächst nur sehr grob ausgewertet werden.

Netzhautvorgänge

Die visuelle Signaltransduktion spielt sich in den lichtempfindlichen Zellen (Zapfen und Stäbchen) der Netzhaut (Retina) ab. Dort befinden sich Rezeptoren, die an ein sogenanntes G-Protein gekoppelt sind. Diese als Rhodopsin bezeichneten Moleküle bestehen aus Vitamin A (Retinal) und einem Proteinanteil (Opsin). Trifft ein Photon auf das Molekül, so verändert das Molekül seine räumliche Anordnung (Konformation). Dabei spielen die beiden Teile des Rhodopsins eine unterschiedliche Rolle. Das Photon wird vom Vitamin-A-Molekül absorbiert, das daraufhin seine Struktur verändert.

Ist es zuerst noch am elften Kohlenstoffatom geknickt, (11-cis-Retinal) so richtet es sich nun gerade aus (all-trans-Retinal). Daraufhin verändert auch der Proteinanteil des Rhodopsin seine Anordnung und kann nun mit dem G-Protein (Transducin) interagieren. Dieses löst eine signalverstärkende Enzymkaskade aus. Bei Wirbeltieren führt diese Enzymkaskade zu einer negativeren elektrischen Ladung an der Zellmembran (Hyperpolarisation), bei wirbellosen wird eine positive Ladung hervorgerufen (Depolarisation). Damit ist das Ende der visuellen Signaltransduktionskaskade erreicht.

Allerdings können auch andere Reize diese Kaskade in Gang setzen und visuelle Eindrücke (Phosphene) hervorrufen, ohne, dass eine visueller Reiz vorliegt allen voran Druck. Die oftmals hellen Muster die man wahrnehmen kann, wenn man sich die Augen reibt oder einen Schlag aufs Auge erhalten hat sind Folge derselben Signalkaskade in den lichtempfindlichen Zellen und erzeugen ebenso ein elektrisches Signal.

Das elektrische Signal wird anschließend von weiteren Zellen der Retina ausgewertet, wobei es in der Retina horizontal und vertikal weitergeleitet wird. Horizontal regulieren Horizontalzellen und Amakrinzellen das Signal, vertikal wird es von Bipolarzellen an die Ganglienzellen weitergeleitet.

Die Ganglienzellen sind Neurone, deren Axone den Sehnerv bilden. Da die Retina von Wirbeltieren invers gebaut ist, die Photorezeptoren also vom Licht abgewendet sind, müssen die Axone der Ganglienzellen durch einen Punkt, den blinden Fleck, das Auge als Sehnerv verlassen.

Schon auf der Retina wird das Signal der Photorezeptoren verarbeitet. So sorgen die Horizontalzellen am Photorezeptor für eine Kantenverstärkung durch laterale Inhibition. Der zentrale Bereich der Retina ist zudem räumlich höher aufgelöst. Nur hier besitzt jeder Photorezeptor eine eigene Ganglienzelle. Im restlichen Auge kommen im Durchschnitt etwa 300 Photorezeptoren auf jede Ganglienzelle. In der Peripherie der Retina kann das Verhältnis bis zu 3000 Photorezeptoren pro Ganglienzelle betragen, weshalb man auch von dendritischen Feldern spricht.

 

Sehbahn

Hauptartikel: Sehbahn

  Die Axone der Sehnerven beider Augen werden im Chiasma opticum (Sehnervenkreuzung) so geteilt, dass die Information von der nasalen Hälfte der Retina in den contralateralen Sulcus Calcarinus geleitet wird, während die Information der temporalen Retinahälfte in den ipsilateralen calcarinischen Sulcus gelangt. Der so geteilte Sehnerv wird als Tractus opticus bezeichnet und übermittelt die Information in das Mittelhirn (Mesencephalon) in den jeweiligen Colliculus superior und das Corpus geniculatum laterale (CGL). Vom CGL aus strahlen die Sehstrahlen (Radiatio optica) in den primären visuellen Kortex (V1) aus. Einige Zellen des CGL strahlen auch direkt in höhere Gehirnareale aus, wie das für die Bewegungserkennung zuständige visuelle Kortexareal V5 (auch mediotemporaler Kortex oder kurz MT genannt) - diese Signale dienen vermutlich zur direkten Kontrolle der Bewegungswahrnehmung.

Abhängig von der Größe der Zellkörper im CGL spricht man auch vom magnozellulären (groß) und parvozellulären (klein) Verarbeitungsweg. Beide Wege haben unterschiedliche Funktionen und haben unterschiedliche Ganglienzelltypen (M- und P-Ganglienzellen, in der Literatur werden die P-Zellen midget ganglion cells, die M-Zellen parasol ganglion cells genannt). Die bei Säugetieren gefundenen W-Zellen lassen sich bei Primaten nicht nachweisen. Bisher wird angenommen, dass die großen Zellkörper vor allem für Bewegungswahrnehmung und Objektlokalisation, die kleinen vor allem für Beschaffenheit, Struktur und Farbe zuständig sind. Im CGL wurde inzwischen, zusätzlich zum magnozellulären und parvozellulären Verarbeitungsweg, ein dritter Verarbeitungsweg gefunden. Wegen der nur kleinen, vereinzelt zwischen den Schichten vorkommenden Zellen bezeichnet man ihn als den koniozellulären Verarbeitungsweg (von griechisch konios, Staub). Er dient wohl zur Verifizierung und Falsifizierung der in V1 bis V3 gewonnenen Informationen des magno- und parvozellulären Weges und ist daher direkt mit höheren Hirnarealen verschaltet (z. B. mit V5 für das Bewegungssehen).

Kortikale Verarbeitungsströme

Im visuellen Kortexareal V1 wird vor allem eine Kantenerkennung durchgeführt. Diese Informationen werden in das Areal V2 und V3 des visuellen Kortex weitergeleitet. Ab hier teilen sich die Verarbeitungswege in einen parietalen (entlang des Scheitels zentral nach vorne) und einen temporalen (zur Schläfe hin gerichteten) Verarbeitungsstrom. Diese haben unterschiedliche Funktionen. So dient der Verarbeitungsstrom zur Schläfe hin gerichtet vor allem der Objekterkennung (daher auch Was-Strom genannt), der am Scheitel entlang laufende Verarbeitungsstrom der Bewegungs- und Entfernungsbestimmung (daher auch Wo-Strom genannt).

Durch diese parallele Verarbeitung wird eine enorm hohe Verarbeitungsgeschwindigkeit erreicht. Innerhalb von nur 150ms ist die gesamte Objekterkennung abgeschlossen, was zeitlich (nach der Phototransduktion) auf lediglich 5-10 neuronale Verarbeitungsschritte schließen lässt. Beide Verarbeitungsströme treffen im Stirnlappen erneut zusammen, womit die visuelle Wahrnehmung durch eine Objektkategorisierung und eine räumliche Bestimmung (Größe, Entfernung, Bewegung) abgeschlossen wird. Das Sehen eines Objektes erfolgt also zeitgleich mit seiner Wahrnehmung! Entlang dieser kortikalen Verarbeitungswege wird die räumliche Anordnung der retinalen Ganglienzellen (Retinopie) immer weiter zugunsten von hochspezialisierten Zentren hin verlassen. V1 und V2 sind annähernd noch vollständig retinop aufgebaut. In den höheren Kortexarealen hingegen gibt es hochspezifische Zellen, die zum Beispiel nur auf das Vorhandensein von Händen, Tieren oder Gesichtern reagieren, unabhängig davon, wo diese Objekte sich im Sehfeld befinden.

Feed-back-Schleifen

Wird ein zuvor unbekanntes Objekt wahrgenommen, wird der feine aufgelöste Bereich der Augen (die Fovea centralis) darauf gerichtet und das Objekt optisch abgetastet. Hat bereits eine Kategorisierung stattgefunden, wird das Objekt sofort erkannt (Perzeption) und auch die Wahrnehmung selber wird diesem Objekt angepasst. Dies geht sogar soweit, dass Kantenwahrnehmung von Scheinkanten, also nicht vorhandenen Kanten, auch im visuellen Kortexareal V1 stattfindet, tatsächlich vorhandene Kanten hingegen dort dann nicht mehr ausgewertet werden. Handelt es sich hingegen um ein völlig unbekanntes Objekt, wird es genauer betrachtet und dann einer passenden Kategorie hinzugefügt (Apperzeption). Ist eine solche Einteilung erfolgt, findet nur noch eine Perzeption statt. Bei einer Fehlbeurteilung dauert es daher recht lange, bis eine korrigierende Wahrnehmung möglich ist.

Limitierungen

Die tatsächliche, physikalische Auflösung eines Auges ist auf einige Bogenminuten begrenzt. Durch die neuronale Fusion beider Bilder beim stereoskopischen Sehen wird tatsächlich eine wesentlich höhere Auflösung wahrgenommen (etwa um Faktor 10 besser), als sie der Bauplan des Auges erahnen lässt. Diese Überauflösung (engl. hyperacuity) hat mehrere Ursachen, wie die neuronal feinere Auflösung im V1 und die langsamen Augenbewegungen (drift). Die schnelle Auswertung der Signale der Photorezeptoren und die Retinopie bis in den visuellen Kortex führt auch häufig zu optischen Täuschungen. Die Farbwahrnehmung entspricht der Standard-Farbwahrnehmung aller Wirbeltiere (Farbkreis), obwohl diese eigentlich für vier verschiedene Photorezeptoren ausgelegt zu sein scheint.

Verknüpfungen der visuellen Wahrnehmung mit anderen Wahrnehmungen

Die Verknüpfung der visuellen Wahrnehmung mit anderen Wahrnehmungen geschieht über jeweils eigene Hirnareale. So werden akustische Wahrnehmungen vermutlich über den Colliculus inferior mit der visuellen Wahrnehmung verknüpft. Zur Ermittlung der Lotrechten wird neben der Information des Innenohres auch der visuell wahrgenommene Horizont verwendet. Allerdings sprechen im visuellen Cortex immer noch die gleichen Zellen an, wenn sich die Winkellage von Konturen auf der Netzhaut durch eine Schrägstellung des Kopfes ändert. Die Lageinformation aus dem Innenohr wird also (mit geringen systematischen Fehlern) korrigierend mit der Netzhautinformation verrechnet, wie Hubel und Wiesel an Katzen durch elektrophysiologische Ableitungen zeigen konnten (siehe Literatur).

Drehen des umgekehrt wahrgenommenen Bilds

Das Bild im Auge wurde durch die Linse um 180° gedreht. Das Gehirn verarbeitet die Signale allerdings so, dass sie mit der Wahrnehmung der anderen Sinne zusammenpassen. Daher erscheint uns die Welt nicht als auf dem Kopf stehend, obwohl auch im Gehirn die Information um 180° gedreht verarbeitet wird. Es wurden Experimente mit menschlichen Versuchspersonen gemacht die prismatische Brillen trugen. Diese Brillen drehen das Bild um. Nachdem sie diese Brillen ca. eine Woche trugen, hatten sie sich daran gewöhnt und sahen alles wieder normal. Dafür kehrte der Effekt zurück, als sie die Brillen wieder abnahmen. [1][2]

Psychologische Betrachtung der visuellen Wahrnehmung beim Menschen

Physikalisch-chemische Stufe

Dieser 1. Stufe werden diejenigen energetischen (physikalischen und chemischen) Prozesse zugerechnet, die in Beziehung zur visuellen Wahrnehmung stehen aber auch außerhalb der visuellen Wahrnehmung vorkommen und Bedeutung haben.

Physische Stufe

Der 2. Stufe werden diejenigen materiellen Prozesse zugerechnet, die nicht nur energetischer Natur sind, sondern auch noch nicht-energetische Funktionen erzeugen, das sind solche, die nur in Lebewesen vorkommen und für diese von Bedeutung sind. Jede dieser spezifischen Funktionen ist an spezifische Materie gebunden, ist abhängiges Korrelat "ihrer" Körpermaterie. Diese "Körperfunktionen" entwickeln sich zusammen mit "ihren" Körpermaterien.

Die Netzhaut befindet sich auf der rückseitigen Innenseite des Augapfels; auf ihr sind Millionen einzelner lichtempfindlicher Zellen - Photorezeptoren - in einer halbkugelförmigen Schicht angeordnet. Die lichtchemische Zersetzung der im Rezeptor enthaltenen Substanz löst einen elektrischen Impuls aus, eine "neuronale Erregung", ein "Signal", das auf nachgeschaltete Zellen weitergeleitet wird, die ihrerseits ihre Erregungen in einem hierarchischen Prozess an bestimmte Gebiete des Gehirns weiterleiten. Diese Vorgänge und ihre hierarchische Struktur werden seit Mitte des 20. Jahrhunderts intensiv von der Neurophysiologie erforscht, anfangs vor allem von David Hubel und Torsten Wiesel, die für ihre bahnbrechenden Ergebnisse den Nobelpreis erhalten haben.

Es gibt zwei Typen von Photorezeptoren: Stäbchen und Zapfen. Die Stäbchen vermitteln das Hell-Dunkel-Sehen, die Zapfen das Farbensehen. Zapfen sprechen auf Rot-, Grün- oder Blau-Empfindung vermittelnde Wellenlängen an. Bei der menschlichen Wahrnehmung unterscheidet man peripheres Sehen und foveales Sehen. Ersteres dient mit Hilfe vor allem der Stäbchen dem zwar unscharfen, aber hoch-lichtempfindlichen Dämmerungssehen (Nachtsehen), zweites mit Hilfe der Zapfen dem "scharfen" Sehen, denn die Fovea, das zentrale Gebiet der Retina, in dem sich der Objektbereich um den Blickpunkt herum abbildet, enthält nur Zapfen, und zwar in großer Dichte. Die Zapfen dienen vor allem dem Tagsehen, denn sie sprechen nicht auf geringe Lichtintensität an; deswegen kann man nachts keine Farben wahrnehmen. Aus der unterschiedlichen spektralen Empfindlichkeit der Stäbchen und Zapfen ergibt sich der so genannte Purkinje-Effekt: das menschliche Auge ist im Bereich des Nachtsehens (das heißt in dunkeladaptiertem Zustand, also bei geringer Beleuchtungsstärke) blauempfindlicher als beim Tagsehen. Darüber hinaus verlangsamt sich beim dunkeladaptierten Auge die Reizverarbeitung, der Seheindruck wird "träger", diese physiologische Besonderheit bewirkt den Pulfrich-Effekt.

Psychische Stufe

Der 3., der psychischen, Stufe gehören Funktionen an, die auf Körperfunktionen aufbauen, selbst aber keine spezifischen Funktionen spezifischer Körpermaterien sind, dafür aber ihrerseits etwas Neues erzeugen: (subjektives) "Erleben", hier: visuelles Wahrnehmungserleben, visuelle Perzepte. Während bereits den Funktionen der energetische Aspekt fehlt, fehlt dem Erleben auch noch der räumliche Aspekt. Erleben hat keinen Ort und ist auch nicht räumlich strukturiert. Nur der Inhalt des Wahrnehmungserlebens ist meistens räumlich strukturiert, nicht aber das Erleben selbst. Diese höhere Art von Funktionen kann man von den Körperfunktionen als "psychische Funktionen" abgrenzen. Die von ihnen produzierten und von ihnen abhängigen Korrelate sind spezifische "Psychische Bewusstseine", hier: visuelle Perzepte.

Wahrnehmungserlebnisse und ihre Bedingungen sind ein von der Wahrnehmungswissenschaft weitgehend unerforschtes Gebiet. Neurobiologen untersuchen den Verlauf neuronaler Erregungen und damit der an die Körpermaterie "Neuron" geknüpfte Körperfunktionen. Sie stellen zwar fest, dass sich bei Reizung bestimmter Neuronenklassen von Tieren mit menschenähnlichem visuellen System bestimmte Wahrnehmungsleistungen einstellen, die beim Menschen bestimmten Erlebnissen entsprechen dürften. Aber sie verstehen Wahrnehmung als rein biologischen, körperlichen, Vorgang, so dass selbst Hubel noch 1995 eingestehen musste: "Wir sind weit davon entfernt, die Wahrnehmung von Objekten, selbst von so einfachen wie Kreisen, Dreiecken oder dem Buchstaben A, zu verstehen - ja, wir vermögen nicht einmal plausible Hypothesen darüber aufzustellen" (S. 228).

Von der Berliner Gestaltpsychologie wurde eine Unmenge von vor allem visuellen Wahrnehmungserlebnissen zutage gefördert (siehe Metzger 1953), aber auch ihre Vertreter glaubten, die von ihnen untersuchten Phänomene mit körperlichen Vorgänge von "isomorpher" Gestalt erklären zu können, ja, sie reduzierten diese sogar noch auf rein physikalische Vorgänge, nämlich elektrische Ströme. Sie scheiterten mit ihrem Erklärungsversuch. Die Leipziger Gestaltpsychologien entdeckten und beschrieben die stufenweise Entwicklung visueller Perzepte, angefangen von diffusen ganzheitlichen "Flecken" über eine Reihe von "Vorgestalten" steigender Differenziertheit bis hin zum volldifferenzierten Perzept, der "Endgestalt". Aber eine Erklärung dieser Aktualgenese des Sehens fanden sie nicht, suchten nach ihr auch gar nicht, obwohl sie mit ihrem Struktur-Begriff einen erlebensjenseitigen "Ort" für die Bedingungen des Erlebens konzipiert hatten. Auch die vielfältigen moderneren Versuche der Erklärung visueller Wahrnehmung haben nicht zu einer plausiblen Theorie geführt.

Angenommen, man verwendet als Reizmuster ein schwarzes Rechteck von 4 cm Breite und 2 cm Höhe. Dann erlebt man auf der psychischen Stufe nur eben dieses schwarze Etwas auf weißem Grund und nichts mehr. Würde man auf dieser Stufe dieses Erleben verbal beschreiben können, was man aber nicht kann, dann würde man etwa sagen, und so etwa lautet auch die Beschreibung durch die ETVG, wobei die in Klammern zugefügten Symbole die Gestaltqualitäten in ihren Plus-Minus-Polaritäten bezeichnen:

"Da ist (Pml) eine homogene (Gml-) schwarze längliche (E+) Figur (Fl+) in einem homogenen weißen Umfeld (Fl-). Die Figur hat vier (Q4) gerade (S+) und scharfe (Gml+) Konturen (Ll+), durch die sich die helligkeitsunterschiedlichen (Dm+) Felder (Ll-) voneinander abgrenzen. Die zwei nicht aneinander stoßenden Konturen, die nah (Dl-) beieinander stehen, sind horizontal (H) orientiert (O), gleichlang (M+) und einander parallel (R-). Die zwei nicht aneinander stoßenden Konturen, die weit voneinander stehen (Dl+), sind vertikal (V) orientiert (O), gleichlang (M+) und einander parallel (R-). Die aneinander stoßenden Konturen bilden rechte Winkel (R+) und sind ungleich lang (M-)."

In dieser Beschreibung können allein "schwarz" (dunkel) und "weiß" (hell) als angeborene Sinnesqualitäten der 2. Stufe angesehen werden; sämtliche mit Symbolen gekennzeichneten Wörter bezeichnen Gestaltqualitäten erlernter Gestaltfunktionen der 3. Stufe. Die Beschreibung mit Worten (ohne Symbolnennung) dauert etwa 30 Sekunden; die Wahrnehmung selbst erfolgt in etwa 1/10 Sek.

Die kognitive Verarbeitung des visuellen Perzepts

Diese 4. Stufe ist von der 3. Stufe ebenso klar unterscheidbar wie die 3. von der 2. Stufe. Wahrnehmungserleben geschieht ausschließlich in der 3. Stufe, fußend auf der 2., und diese fußt auf der 1. Stufe. Erst in der 3. Stufe entsteht "Bewusstsein". Dieses hat allerdings die Form des "schlichten Bewusstsein" (Lersch), es ist reines Objektbewusstsein, Wahrnehmungsbewusstsein, Wahrnehmungserlebnis. In der 4., der "mentalen", Stufe finden andere, ebenfalls bewusste, Vorgänge statt, aber es sind "geistige" oder "mentale" Vorgänge. Diese sind also nicht selbst Wahrnehmungsvorgänge, sondern, wenn sie schon "irgendwie" mit Wahrnehmung zu tun haben, dann in der Weise, dass das Wahrgenommene Bezugssystem für sie ist. Dabei wird das Objektbewusstsein (der 3. Stufe) selber bewusst. Geistiges Bewusstsein ist Bewusstsein höherer Art; es befindet sich eine Hierarchiestufe über dem Objektbewusstsein.

Die einfachste Form des Bewusstseins der 4. Stufe ist das Erkennen. In obigem Beispiel kann das Reizmuster als "liegendes Rechteck" bezeichnet werden. Man nimmt aber auf der 3. Stufe nicht ein "liegendes Rechteck" wahr, sondern nur jenes Etwas, wie oben beschrieben. "Liegendes Rechteck" ist keine Wahrnehmung, sondern eine Erkennung (4. Stufe): wir haben in der Schule gelernt, dass ein Ding, das so aussieht, als "Rechteck", oder gar, wenn man bei der Benennung die horizontale Orientierung der längeren Kanten mitberücksichtigen will, als "liegendes Rechteck" genannt wird. Der Unterschied zwischen Wahrnehmen und Erkennen ist wissenschaftstheoretisch von größter Bedeutung, wird aber in der Wahrnehmungswissenschaft sehr häufig nicht beachtet, weil das Wort "bewusst" oft im Sinne der Umgangssprache als "geistig bewusst" verwendet wird. Bei Nichtbeachtung des Unterschieds verwischt man aber die Grenzen zwischen (psychischem) Wahrnehmen und (geistigem, mentalem) Erkennen. Dies geschieht schon dann, wenn man Wahrnehmungserleben als "mentalen" Vorgang bezeichnet oder glaubt, ein Perzept sei erst ein Perzept, wenn Wahrgenommenes "geistig" verarbeitet worden sei.

Wahrnehmen ist zweigliedrig: Ich (1) nehme etwas wahr (2). Erkennen ist dreigliedrig: Ich (1) erkenne Wahrgenommenes (2) als diesen Gegenstand (3).

Gestaltwahrnehmung beruht zudem auf impliziten (unbewussten) Lernprozessen, das sind solche, durch die nicht-erlebte, erlebensjenseitige, (Gestalt)Funktionen im Gedächtnis miteinander verknüpft werden, wobei diese dann freilich durch nachfolgende Aktualisierung "ihre" Gestaltqualitäten produzieren, die das stets ganzheitliche Wahrnehmungserlebnis (Perzept) konstituieren.

Erkennen dagegen beruht auf expliziten Lernprozessen, das sind solche, in denen bereits Erlebtes miteinander assoziiert wird. So wird das Wahrnehmungserlebnis "schwarzes Etwas" mit dem geistigen Erlebnis der Bedeutung und Bezeichnung "Rechteck" assoziiert. Visuelle Wahrnehmungen werden kognitiv und damit in üblichem Sinne "bewusst" in drei Schritten verarbeitet:

  1. Globalauswertung. Mit dem ersten Blick auf ein Bild oder eine Szene konzentriert sich der Betrachter darauf, einen Gesamteindruck der Szene zu gewinnen. Die visuelle Information wird dabei kategorisiert (z. B. "Landschaft", "Person", ...) und einem Schema aus dem Erfahrungsschatz des Betrachters zugeordnet, das zum weiteren Verständnis benutzt wird. Mit Erfahrung ist hier das Ergebnis von expliziten (das heißt: auf bewussten Erlebnissen beruhenden) Lernprozessen gemeint. So erfolgt z. B. die Auswertung von Zeichnungen oder Texten mit völlig anderen Mitteln als die Auswertung einer dreidimensionalen Szene.
  2. Detailauswertung. Nachdem der Betrachter sich einen Gesamteindruck verschafft hat, führt er eine Grobabtastung durch. Dazu lenkt er seinen Blick - oft aber nicht zwingend der Leserichtung folgend - über die Szene und ordnet die wahrgenommenen Informationen in das bereits aktivierte Schema ein oder nimmt im Bedarfsfall eine Neukategorisierung vor. Nach dieser Grobabtastung lenkt der Betrachter seinen Blick auf Bildbereiche, die visuell hervorstechen, z. B. durch Bewegung, Farbkontraste oder die Unterscheidung zwischen Vorder- und Hintergrund.
  3. Elaborative Auswertung. Erst jetzt aktiviert der Wahrnehmende ein Modell zur Übersetzung der visuellen Information in ein mentales Modell, welches für seine reale Problematik und die zu lösende Aufgabe geeignet scheint. Die Betrachtung wird nun zielorientiert und konzentriert sich auf diejenigen Details, die zum Aufbau des mentalen Modells benötigt werden, z.B. das Gesicht oder die Geschlechtsmerkmale einer Person. Unwichtige Details werden bei diesem Vorgang ausgeblendet, im mentalen Modell nicht berücksichtigt und daher auch nicht bewusst wahrgenommen. Dieser letzte Schritt ist sehr individuell; Auswahl und Reihenfolge der berücksichtigten Details werden durch Übung und Erfahrung optimiert. Eine ausführlichere Beschreibung des mentalen Modells findet sich unter Wahrnehmungspsychologie.

Weitere Informationen über die Augenbewegungen in Verbindung mit dem Wahrnehmungsprozess finden sich unter Blickbewegung. Der Wahrnehmungsprozess beim Lesen wird im Artikel Lesen ausführlicher dargestellt.

Visuelle Wahrnehmung bei anderen Lebewesen

Die bloße Möglichkeit, Licht wahrzunehmen, besitzen auch die Pflanzen. Allerdings wird hierbei nicht von Sehen gesprochen, da diese Wahrnehmung mit der Photosynthese untrennbar verbunden ist. Sie führt aber sehr wohl auch zu gezielten Reaktionen, etwa zur Ausrichtung der Blätter nach dem Lichteinfall oder zur Steuerung der Blütenbildung nach der wahrgenommenen Tageslänge.

Ein völlig anderes Bildsehen als die Wirbeltiere und Weichtiere mit ihren Linsenaugen weisen Insekten und Krebse auf, die über so genannte Facettenaugen verfügen. Dabei ist beispielsweise das Bienenauge aus rund 5000 Teilaugen, den Ommatidien, zusammengesetzt. Jedes Ommatidium enthält in einer seitlich durch kontraktile Pigmentzellen abgedunkelten Becherstruktur 7 einzelne Sinneszellen, die sowohl für unterschiedliche Polarisationsrichtungen als auch für unterschiedliche Wellenlängenbereiche des Lichtes empfindlich sind. Nach der Oberfläche hin enthält jedes Ommatidium eine Sammellinse, welche den "Blickwinkel" der einzelnen Facette einengt.

Auch die spektrale Empfindlichkeit von Insektenaugen unterscheidet sie von den Wirbeltieraugen. Wie Karl von Frisch zeigte, können Bienen ultraviolettes Licht wahrnehmen, nicht dagegen rotes. Insekten besitzen neben den Facettenaugen noch ein weiteres visuelles Wahrnehmungsorgan, die drei Punktaugen (auch Stirnaugen oder Ocellen), die vermutlich als Lichtmesser der Feststellung der absoluten Helligkeit dienen.

Klapperschlangen und andere Grubenottern können durch ein "Wärmestrahlenauge" - das Grubenorgan, infrarotes Licht, also Wärmestrahlung wie Körperwärme sehen. Vermutlich besitzen dieses visuelle Sinnesorgan auch Nachtschmetterlinge.

Siehe auch

Literatur

Zur Sinneswahrnehmung bei Tieren:

  • Vitus B. Dröscher: Magie der Sinne im Tierreich. München 1966 (3. Aufl., ebd. 1984). ISBN 3-423-011-26-2

Zur Neurobiologie des Sehens:

  • David Hubel: Auge und Gehirn : Neurobiologie des Sehens. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag, 1995
  • Robert W. Rodieck: The First Steps in Seeing Sinauer Associates; Erste Auflage (15 Januar 1998).
  • Stephen E. Palmer: Vision Science: Photons to Phenomenology Cambridge, MA: Bradford Books/MIT Press. Erste Auflage (7. Mai 1999) Die Bibel der visuellen Wahrnehmung
  • Richard Gregory: Auge und Gehirn : Psychologie des Sehens. Reinbek b. Hamburg 2001
  • Donald D. Hoffman: Visuelle Intelligenz : Wie die Welt im Kopf entsteht. München: dtv, 2003. ISBN 3-423-33088-0

Zur ökologischen Theorie der visuellen Wahrnehmung:

  • James Jerome Gibson (1966): The Senses Considered as Perceptual Systems. Dt.: Die Sinne und der Prozess der Wahrnehmung, Hans Huber, Bern 1973.
  • James Jerome Gibson (1979): The Ecological Approach to Visual Perception. Dt.: Wahrnehmung und Umwelt, Urban & Schwarzenberg, München 1982.

Zur visuellen Gestaltwahrnehmung beim Menschen:

  • Lothar Kleine-Horst: Evolutionär-psychologische Theorie des Sehens. Auftakt zu einem neuen wissenschaftlichen Weltbild. Köln, 1992 ISBN 3-928955-40-3 (Die Gestaltwahrnehmung nach der Neuen Gestaltpsychologie)
  • Wolfgang Metzger: Gesetze des Sehens. Frankfurt/M: Kramer. 1953

Zur Psychosomatik des Sehens:

  • Ilse Strempel, Das andere Augenbuch. Seele und Sehen - ein Leitfaden für Betroffene, KVC Verlag (Karl und Veronica Carstens-Stiftung) Essen 2004

Videos

  • Manfred Spitzer: Sehen. RealVideo aus der BR-alpha-Reihe Geist und Gehirn. (ca. 15 Minuten)


Quellenangaben

  1. Statton,, G. M. (1897) "Vision without inversion of the retinal image", in: Psychological Review 4, S. 341-360
  2. Snyder, F. W. und Pronko, N. H. (1952), Vision and Spatical Inversion
 
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