Schwebende Zellen im Minilabor

Verfahren zur schonenden Sortierung, Charakterisierung und Behandelung einzelne Zellen

11.02.2002
Prof. Günter Fuhr, Leiter des Fraunhofer-Instituts für Biomedizinische Technik IBMT, ist einer der vier diesjährigen Philip-Morris-Preisträger. Mit seiner Berliner Wissenschaftlergruppe an der Humboldt-Universität hat er ein Verfahren entwickelt, mit dem einzelne Zellen schonend sortiert, charakterisiert und behandelt werden können. Das mikrometerkleine Zell-Labor ist ein wichtiges Instrument für die moderne Biotechnologie. Es ermöglicht, die Reaktion einzelner Zellen auf Medikamente oder Schadstoffe zu testen. "Unser Vorbild ist das Immunsystem", beschreibt Prof. Günter Fuhr seine Forschungsarbeiten. "Es überprüft auf molekularer und zellulärer Ebene beständig Millionen von Zellen und bekämpft ganz gezielt Fremdkörper. Was im Körper funktioniert, muss sich auch außerhalb nutzen lassen." Doch technisch nachbauen konnte man ein Prüflabor für Zellen nicht. Für die Entwicklung physiologischer Handhabungssysteme fehlten wesentliche Grundprinzipien und Erfahrungen. Der Grund: Schon der Kontakt mit Pipetten, Objektträgern oder anderen Zellen verändert die Eigenschaften von Zellen. Sie reagieren auf alles, was ihre Oberfläche mit tausenden von molekularen Sensoren erreicht. Die Zellen belebter Wesen tauschen permanent Informationen miteinander aus. Das ist die Grundvoraussetzung für höhere Lebewesen wie Pflanzen, Tiere und Menschen. Die Signale zwischen den Zellen werden durch chemische Reize, aber auch durch molekularen Kontakt übertragen. So ein Signal kann, je nach Situation, die Zellteilung beeinflussen, eine Immunreaktion der Zelle auslösen, eine Reorganisation der inneren Zellbausteine hervorrufen, aber auch zu Verletzungen der Zellmembran und zum Zelltod führen. Was sich für Zellen als nützlich oder sogar überlebenswichtig herausgestellt hat, wurde für Biologen und Mediziner schnell zum Problem: Wie sollten sie Zellen untersuchen, wenn sich deren Eigenschaften bereits durch einfache Berührung verändern? Eine erste Voraussetzung ist die Vermeidung von undefinierten Oberflächenkontakten, denn diese lösen auch eine Vielzahl unkontrollierter Reaktionen aus. Die verbreiteten Pipettentechniken entfallen also. Eine Gruppe von Wissenschaftlern an der Berliner Humboldt-Universität hat sich viele Jahre lang mit dieser Frage befasst. Inzwischen führt Professor Fuhr mit seiner Berliner Gruppe diese Arbeiten am Fraunhofer-Institut für Biomedizinische Technik IBMT mit Standorten in St. Ingbert, Potsdam, Berlin, Hialeah/Florida (USA) und Shenzhen (China) fort. Die Grundidee ist einfach: Wenn Zellen so empfindlich auf mechanische Reize reagieren, müssen sie eben berührungslos gehandhabt werden. Ausgangspunkt war die Erkenntnis, dass Zellen relativ unempfindlich gegen hochfrequente, elektromagnetische Felder im Radiowellenbereich sind. Schnell konnten die Wissenschaftler zeigen, dass mit solchen Feldern Zellen in Flüssigkeit schwebend gehalten, gedreht oder transportiert werden konnten. In enger Zusammenarbeit mit der Industrie machten sich die Wissenschaftler an die Entwicklung von Mikrosystemen. Sie erzeugen Radiowellen in miniaturisierten Elektrodensystemen, die in haarfeine Mikrokanäle integriert sind. Mit Hilfe dieser Felder kann man Zellen in freier Lösung schwebend halten, sie positionieren, drehen, charakterisieren und separieren oder auch in einen sehr exakten Kontakt mit anderen Zellen bringen - ohne dass sie es bemerken, das heißt, ohne dass sie innerhalb der Manipulationszeit reagieren und sich verändern. Die Arbeitsgruppe kann in Zusammenarbeit mit der Industrie solche Mikrosysteme, in die man physiologische Lösungen und Zellen einführen kann, innerhalb von wenigen Monaten für spezifische Kundenwünsche entwickeln. "Wir stehen am Übergang zu einem völlig neuen Zeitalter. Die Biowissenschaften werden unser tägliches Leben nachhaltig verändern und die frühzeitige und ganz spezifische Bekämpfung und Heilung von Krankheiten ermöglichen", zeigt Prof. Fuhr die Perspektive seiner Forschungen auf. "Im Mittelpunkt stehen dabei Zellen unterschiedlichster Art, nicht nur Stammzellen, wie oft der Eindruck erweckt wird. Wichtige Voraussetzung dafür sind Technologien, mit denen man beliebige Zellen handhaben und testen kann, ohne sie zu belasten." Aus diesem recht einfachen Grundgedanken entwickelten sich ungeahnte Anwendungsfelder: Wie kann man Zellen aufbewahren? Denn man will ja die identifizierten und separierten Zellen längere Zeit in unverändertem Zustand zur Verfügung haben. Dazu müssen sie bei minus 150 °C eingefroren werden. Daraus ergibt sich ein weiteres innovatives Arbeitsgebiet, das Fuhr derzeit am IBMT aufbaut: die zellbasierte Kryo-Biotechnologie in Mikrosystemen. Gleichzeitig ist Fuhr dabei, noch weitere Funktionen des Immunsystems technisch nachzubilden: das zerstörungsfreie Testen der Zellen. "Vergleichbare physiologische Testverfahren besitzen wir noch nicht", betont er. "Wir setzen gewöhnlich den Zellen Substanzen zu, die sie verändern. Und im übrigen wissen wir doch aus der Physik, dass ein Messvorgang stets eine Veränderung hervorruft". Doch dem Philip-Morris-Preisträger ist es gelungen, auch hier einen Weg zu finden. Nach dem Vorbild der Kriminalisten, die Verbrecher aufgrund ihrer Spuren überführen, machten sich die Forscher auf die Suche nach Spuren der Zellen. Und in der Tat, wenn sich Zellen über eine Oberfläche bewegen, hinterlassen sie feinste Filamente. Es gelang, diese Spuren zu untersuchen und zu bewerten - sie stellen eine Art molekularer Fingerabdruck der Zelle dar. Und schon eröffnen sich weitere interessante Anwendungen zur Entwicklung von Minilabors für Zellen.

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