Multiple Sulfatasedefizienz: Atomare Struktur eines wichtigen Enzyms entschlüsselt
Bei den Sulfatasen handelt es sich um Enzyme, die Schwefelsäuregruppen bei einer Vielzahl von Molekülen abspalten. Fehlen diese Sulfatasen, werden die Entwicklung und die Funktion vieler Organsysteme, darunter auch das Nervensystem, gestört. Bereits vor zwei Jahren konnten die Biochemiker Prof. Dr. Thomas Dierks und Dr. Bernhard Schmidt das Gen isolieren, dessen Defekt den Ausfall der Sulfataseaktivitäten verursacht. Dieses Gen verschlüsselt eben jenes Formylglycin-generierende Enzym (FGE), das in den Sulfatasen die Aminosäure Formylglycin erzeugt. Diese einzigartige Aminosäure, die von den Göttinger Wissenschaftlern unter der Leitung von Prof. von Figura erstmals vor zehn Jahren nachgewiesen wurde, ist allein in Sulfatasen zu finden und tritt nirgendwo sonst in der Natur auf. Dabei ist das Formyglycin in den Sulfatasen an strategisch wichtiger Stelle angesiedelt: Die Aminosäure sitzt in dem Bereich, der für die Abspaltung von Schwefelsäuregruppen verantwortlich ist. "Damit kontrolliert das Formylglycin-generierende Enzym die Aktivitäten aller 16 Sulfatasen, die beim Menschen bekannt sind", erläutert Prof. Dierks. Allerdings gab die im Jahr 2003 ermittelte Gensequenz keinen Aufschluss über die tatsächliche Funktionsweise des FGE.
Um das Enzym weiter erforschen zu können, haben die Göttinger Biochemiker das FGE in gentechnologischer Produktion in größerer Menge hergestellt. Daraus konnte der Strukturbiologe Dr. Markus Rudolph zusammen mit Dr. Achim Dickmanns Kristalle des Enzyms züchten. Diese Kristalle lieferten in sehr hoher Auflösung eine räumliche Struktur, die auf den ersten Blick sehr "unregelmäßig" erscheint. "So ungewöhnlich die Aminosäure Formylglycin ist, so außergewöhnlich ist auch die Struktur des Enzyms, das sie erzeugt", so Dr. Rudolph. Mit der Strukturanalyse erhielten die Wissenschaftler zugleich einen Einblick in die überraschende Funktion des Enzyms. "Das FGE benutzt molekularen Sauerstoff, den es auf eine erstaunlich einfache, bislang nicht für möglich gehaltene Weise in die Sulfatasen einbauen kann - ohne die Beteiligung von Metallen oder anderen kompliziert aufgebauten Faktoren", sagt der Wissenschaftler, der in der Abteilung für Molekulare Strukturbiologie eine von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Forschernachwuchsgruppe leitet.
Die Göttinger Forscher wollen nun an einer weiteren Aufklärung der Funktionsweise von FGE arbeiten. Das Enzym ist der erste funktionell charaktersierte Vertreter einer neuartigen, weitverbreiteten Proteinfamilie, die in ein- und vielzelligen Organismen von Bakterien bis zum Menschen nachweisbar ist. "So ist die Multiple Sulfatasedefizienz ein Beispiel dafür, wie durch die Suche nach den Ursachen einer seltenen Erkrankung das Verständnis der gesamten Biologie erweitert werden kann", betont Prof. von Figura. Das Formylglycin-generierende Enzym wird inzwischen in einem biotechnologischen Verfahren eingesetzt, um mehrere Sulfatasen effizient herzustellen und sie für die Therapie von einzelnen Sulfatasedefizienz-Erkrankungen zu nutzen.
Originalveröffentlichung: CELL 2005.
Meistgelesene News
Themen
Organisationen
Weitere News aus dem Ressort Wissenschaft
Holen Sie sich die Life-Science-Branche in Ihren Posteingang
Ab sofort nichts mehr verpassen: Unser Newsletter für Biotechnologie, Pharma und Life Sciences bringt Sie jeden Dienstag und Donnerstag auf den neuesten Stand. Aktuelle Branchen-News, Produkt-Highlights und Innovationen - kompakt und verständlich in Ihrem Posteingang. Von uns recherchiert, damit Sie es nicht tun müssen.