Neue Software macht Nervenverbindungen im Gehirn sichtbar

Das lebende Gehirn virtuell sezieren

09.06.2004

Mit Hilfe der Kernspintomographie lässt sich heute die Aktivität verschiedener Hirnareale direkt mitverfolgen. Jetzt gewährt dieses Verfahren aber auch neue anatomische Einblicke ins Innere des Gehirns, indem es die wichtigsten Nervenverbindungen dieses Organs beschreibt - mit Hilfe einer Software, die an der ETH Lausanne in Zusammenarbeit mit dem Universitätsspital Lausanne (CHUV) und mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds entwickelt wurde.

Bei einer Operation achtet der Neurochirurge sorgsam darauf, dass die Verbindungen, welche die Kommunikation zwischen verschiedenen Hirnarealen sicherstellen, unversehrt bleiben. Ein Tumor kann nun aber den Verlauf dieser Nervenstränge verändern, so dass der Chirurg sich nicht mehr nur auf sein anatomisches Wissen verlassen kann. In einem solchen Fall kann eine neue Software helfen, die an der ETH Lausanne mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds entwickelt wurde: In Kombination mit einem Kernspintomographen visualisiert diese Software sehr präzise den Verlauf der wichtigsten Verbindungen im Gehirn des Patienten.

«Dies ist das Resultat eines interdisziplinären Projekts im wahrsten Sinne des Wortes», betont Jean-Philippe Thiran, der die Arbeiten am Institut für Signalverarbeitung der ETH Lausanne geleitet hat. Forschende der Ingenieur- und der Lebenswissenschaften waren nämlich zu etwa gleichen Teilen an diesem Projekt beteiligt. Die Abteilung für Radiologie des CHUV beteiligte sich an der Projektleitung, und der junge Mediziner Patric Hagmann führte im Rahmen seiner Dissertation an der ETH Lausanne die praktischen Arbeiten durch. «Ein bemerkenswertes Beispiel für die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Einrichtungen, von der die medizinische Forschung und später Patienten mit Hirnerkrankungen profitieren werden», betont Jean-Philippe Thiran.

Sanft, leistungsfähig, nicht-invasiv

Durch das Sezieren von Leichen konnte und kann noch immer viel über die Anatomie des Gehirns gelernt werden. Die Zahl der zur Verfügung stehenden Körper ist jedoch beschränkt. Die wichtigsten Nervenbahnen verlaufen bei allen Menschen etwa gleich. Im Detail oder unter gewissen Umständen, zum Beispiel nach einer Hirnverletzung, sind ihre Wege jedoch unterschiedlich. Mit der neuen Software ist der Blick ins Gehirn jedoch gleichzeitig feiner und effizienter. Man spricht dabei von «virtueller In-vivo-Sektion» - «in vivo» , weil am lebenden Hirn seziert wird, und «virtuell», da das Hirngewebe nicht mit einem wirklichen Skalpell, sondern nur am Computer untersucht wird.

Das Programm stellt auf dem Bildschirm plastisch die gewünschten Hirnareale einschliesslich der verbindenden Nervenbahnen dar. Auf diese Weise entstanden bei einem Sprachtest faszinierende Bilder. Die Versuchspersonen hörten zuerst einen gesprochenen Satz und mussten dann an ein Wort denken, zwei Aufgaben, die unterschiedliche Hirnareale aktivieren. Die Bilder zeigen, dass bei Rechtshändern die Nervenbahnen zwischen den beiden Areale in der linken Gehirnhälfte besser entwickelt sind als die Verbindungen der entsprechenden Areale auf der rechten Gehirnhälfte. Bei Linkshändern gibt es diesen Unterschied nicht. Wissen, verstehen, diagnostizieren «Mit der virtuellen In-vivo-Sektion verfolgen wir zwei Ziele», erklärt Jean-Philippe Thiran. «Erstens wollen wir mehr über das Gehirn und Hirnerkrankungen wissen, und zweitens möchten wir solche Krankheiten auch besser diagnostizieren, zum Beispiel früher erkennen, um sie besser behandeln zu können.» Eingesetzt wird diese Methode bereits im Rahmen einer Studie über Schizophrenie, die gegenwärtig an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Cery bei Lausanne mit rund 40 Patienten durchgeführt wird. Nützlich könnte sie sich auch bei der Erforschung anderer Gehirnerkrankungen wie Multipler Sklerose, Alzheimer oder Hirnschlag erweisen, bei denen möglicherweise auch die Nervenbahnen im Gehirn betroffen sind. Kostenlos zur Verfügung

Der Einsatz dieser Software erfordert keine Spezialausrüstung: Ein moderner Kernspintomograph reicht aus und die Software läuft auf einem normalen Computer. Auf Anfrage wird sie kostenlos abgegeben. An der Harvard Medical School in Boston und am National Neuroscience Institute in Singapur kommt sie bereits zum Einsatz. Das Institut für Signalverarbeitung sucht nun einen Partner aus der Industrie, um im Operationssaal eine angenehmere Nutzung zu ermöglichen.

Die Methode beruht auf folgendem Prinzip: Die Wassermoleküle in den Nervenbahnen schwingen wegen der thermischen Bewegung ungeordnet, jedoch meist entlang der Nervenfasern. Diese Bewegungen können mit Hilfe der Kernspintomographie (NMR-Tomographie) erfasst und zu einem Gesamtbild zusammengefügt werden, das diese Bahnen nachzeichnet. Dieses Prinzip wurde zwar bereits in verschiedenen Verfahren eingesetzt. Die Methode der ETH Lausanne zeichnet sich jedoch durch eine besonders grosse Auflösung aus - angesichts der äusserst filigranen Nervenzellen zweifellos ein entscheidender Vorteil.

Die virtuelle In-vivo-Sektion gibt zwar Auskunft über den präzisen anatomischen Verlauf der Verbindungen zwischen den Hirnarealen, nicht aber darüber, ob diese Verbindungen aktiv sind oder nicht, ob sie gut oder schlecht funktionieren. Diese Art von Information könnte jedoch durch andere Methoden wie die funktionelle Kernspintomographie oder die Elektroenzephalographie geliefert werden. «Ideal wäre ein Verfahren, das beide Arten von Informationen verbindet, nämlich die Nervenverbindungen darstellt und gleichzeitig anzeigt, wie aktiv sie sind», erklärt Jean-Philippe Thiran. «Dieser Vision möchten wir unsere künftigen Arbeiten widmen.»

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