Biochemiker und Wissenschafts-Kritiker Erwin Chargaff gestorben

25.06.2002
Stuttgart/New York (dpa) - Der Biochemiker und Wissenschafts- Kritiker Erwin Chargaff ist im Alter von 96 Jahren in einem New Yorker Krankenhaus gestorben. Das teilte der Verlag Klett-Cotta, der Chargaffs Werke in Deutschland verlegt, am Montag in Stuttgart mit. Als Todesdatum nannte der Verlag den vergangenen Donnerstag (20. Juni). Chargaff hatte 1948/49 entdeckt, dass jeweils zwei Basen des Erbguts ein Paar bilden. Dies war eine Grundvoraussetzung zur Entwicklung des Erbmaterial-Modells, für das James Watson, Francis Crick und Maurice Wilkins 1962 den Nobelpreis erhielten. Chargaff schuf damit eine wichtige Grundlage für die Gentechnik. Außer seiner Tätigkeit als Forscher machte er sich einen Namen als Kritiker des Wissenschaftsbetriebs, insbesondere der Nuklearforschung und der modernen Gentechnologie. Der Schock über Hiroshima war es, wie er sagt, der ihn zu einem leidenschaftlichen Warner vor den Konsequenzen auch der eigenen Ergebnisse werden ließ. «Ich bin gegen den Fortschritt. Ich leugne, dass es ihn gibt», hatte er wenige Wochen vor seinem 95. Geburtstag in einem Interview der Süddeutschen Zeitung gesagt. «... was sich so rapide bewegt, ist nicht der Fortschritt im Sinne der Verbesserung, sondern nur im Sinne der Veränderung», heißt es in einer kulturkritischen Schrift des literarisch hoch gebildeten Mannes. Einer breiten Öffentlichkeit wurde er durch zivilisationskritische Essays bekannt, in denen er für die Bewahrung der Schöpfung und eine Ethik des Verzichts in der naturwissenschaftlichen Forschung plädierte. Diesen Standpunkt vertrat er auch in seiner Autobiografie «Das Feuer des Heraklit» (1981 auf deutsch erschienen). In der Essay- Sammlung «Unbegreifliches Geheimnis» setzte Chargaff die Attacken auf Wissenschaft und Wissenschaftler in seinem polemischen Stil fort. «Die Menschen haben ein immer kürzeres Gedächtnis und immer längere Magnetbänder», schrieb er 1982 in seinem Werk «Warnungstafeln». In der Zeitschrift «Scheideweg» veröffentlichte er Beiträge unter den Titeln «Bemerkungen zur genetischen Bastelsucht» und «Wenig Lärm um viel». Chargaff wurde am 11. August 1905 als Sohn jüdischer Eltern im polnischen Czernowitz geboren, hatte in Wien promoviert und dann unter anderem in Berlin und Paris gearbeitet. 1935 emigrierte er in die Vereinigten Staaten. Seine Mutter wurde im April 1943 von den Nationalsozialisten nach Polen deportiert und kam dort um. Chargaff forschte und lehrte bis ins hohe Alter an der New Yorker Columbia-Universität. Dort leitete er von 1970 an bis zu seinem Ruhestand 1974 die Abteilung für Biochemie. Nach mehr als 300 wissenschaftlichen Veröffentlichungen bis zu seiner Pensionierung schrieb Chargaff ein gutes Dutzend kultur- und gesellschaftskritischer Bücher.

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