Durchbruch beim Verständnis funktioneller Erkrankungen

Psychogene Störungen haben objektiv messbare neurophysiologische Korrelate

30.03.2011 - Deutschland

Funktionelle Erkrankungen sind Erkrankungen mit körperlichen Symptomen, für die sich keine hinreichende medizinische Ursache findet. In unserer Gesellschaft sind diese rätselhaften Krankheitsbilder weit verbreitet. Dennoch sind sie wissenschaftlich ungenügend verstanden und diagnostisch schwer greifbar – sie werden daher häufig nicht erkannt. Ärzten der Kliniken Schmieder ist gemeinsam mit Wissenschaftlern der Universitäten Magdeburg und Konstanz ein wichtiger Durchbruch beim Verständnis funktioneller Erkrankungen gelungen. Erstmalig konnten neurale Funktionsmechanismen nachgewiesen werden, die einer typischen pseudoneurologischen Störung zugrunde liegen.

Körperliche Erkrankungen haben zusätzlich zu der organischen in aller Regel auch eine psychische Komponente, die einen erheblichen Anteil der subjektiven Beschwerden ausmachen kann. Die psychische Komponente kann manchmal überwiegen und körperliche Beschwerden und Beeinträchtigungen können sogar ohne hinreichende organische Ursache auftreten - selbst klinisch sehr schwere. Im Bereich der Neurologie handelt es sich dann um sehr dramatisch imponierende Symptome oder Ausfälle, die unter anderem willkürliche motorische oder sensorische Funktionen betreffen (z.B. Lähmung der Beine, Blindheit oder Krampfanfälle). Die Symptome legen zunächst eine neurologische Erkrankung (z.B. einen Schlaganfall oder eine Epilepsie) nahe, können aber durch eine solche nicht ausreichend erklärt werden. Oftmals gehen diesen scheinbar neurologischen Symptomen oder Ausfällen psychische Konflikte oder andere psychosoziale Belastungsfaktoren voraus. Aber bei auch psychisch nicht erkennbar beeinträchtigten Menschen können pseudoneurologische, funktionelle Störungen auftreten. Nach Schätzungen geht man geht davon aus, dass funktionelle Symptome bei bis zu einem Drittel aller stationären neurologischen Patienten eine Rolle spielen.

Ein Forschungsteam um Prof. Ariel Schoenfeld (Universitätsklinikum Magdeburg, Forschungsberater des Lurija Instituts der Kliniken Schmieder) und Dr. Roger Schmidt (Kliniken Schmieder Konstanz) untersuchte mittels modernster elektrophysiologischer und kernspintomographischer Verfahren eine Patientin, die seit Jahren unter ihrer Blindheit litt, ohne dass umfassende neurologische, internistische, augenärztliche oder radiologische Untersuchungen eine organische Ursache finden konnten. Dem Team aus Ärzten und Wissenschaftlern gelang es, objektive Hinweise für eine gestörte Informationsverarbeitung im visuellen System zu finden. Erstmalig konnten somit neurale Korrelate einer pseudoneurologischen Störung nachgewiesen werden. Nach erfolgreicher Therapie über 18 Monate konnte die Patientin wieder sehen – und die Informationsverarbeitung im visuellen System war wieder normal. Aus dem elektrophysiologischen Muster der Veränderungen konnten die Wissenschaftler wichtige Rückschlüsse auf die neuralen Funktionsmechanismen ziehen, die der scheinbar körperlichen, primär jedoch funktionellen Störung zugrunde liegen. Hierbei scheint die visuelle Aufmerksamkeit eine übergeordnete Rolle zu spielen. Dieser Mechanismus ist normalerweise dafür verantwortlich, wichtige Informationen aus der Fülle von unwichtigen Informationen, die das visuelle System ständig überfluten, herauszufiltern. Bei der untersuchten Patientin führte er jedoch dazu, dass auch wichtige visuelle Information als unwichtig klassifiziert und deren Wahrnehmung unterdrückt wurde.

Die Ergebnisse, die nun in Cerebral Cortex veröffentlicht wurden, zeigen, dass Funktionsveränderungen mit modernen Messverfahren auch bei pseudoneurologischen Störungen diagnostiziert werden können. Die Kenntnis der zu Grunde liegenden neuralen Mechanismen eröffnet neue Perspektiven für die Diagnostik und Therapie dieser noch rätselhaften und deshalb oft ungenügend behandelten Erkrankungen.

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