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Neglect



Mit Neglect bezeichnet man in der Neurologie eine Störung der Aufmerksamkeit, welche durch eine halbseitige Schädigung im Gehirn (Hirnläsion) hervorgerufen wird. Man erkennt ihn anhand mehrerer Symptome, die unterschiedlich stark ausgeprägt sein können und nicht alle gemeinsam auftreten müssen. Ein Neglectpatient hat Schwierigkeiten die der Hirnläsion gegenüberliegende Seite (kontraläsionale Seite) seiner Umgebung und auch seines Körpers wahrzunehmen. Bei den meisten Neglectpatienten ist die rechte Hirnhälfte betroffen und die linke Seite in der Wahrnehmung eingeschränkt. Diese Missachtung kann sich auf Reize aller Sinne beziehen. Meistens sind mehrere oder alle fünf Sinne betroffen. Gleichzeitig wird auch die Motorik auf der betroffen Seite missachtet: Die Extremitäten werden deutlich weniger bewegt, auch wenn keine Lähmung vorliegt. Neglect tritt häufig nach größeren rechtshemisphärischen Infarkten oder Blutungen der Arteria cerebri media auf. Entsprechend werden meistens Reize auf der linken Raumseite vernachlässigt. Die betroffenen Patienten sind sich meistens ihrer Defizite nicht bewusst und empfinden ihr Verhalten zunächst als normal. Neglect wird gelegentlich irrtümlich bei Patienten mit einem eingeschränkten Gesichtsfeld diagnostiziert. Bei Gesichtsfeldeinschränkungen ist jedoch ausschließlich das Sehen betroffen und die Störungseinsicht des Patienten in der Regel deutlich besser.

Inhaltsverzeichnis

Symptome

Ein Neglectpatient übersieht Dinge, welche auf der kontraläsionalen Seite liegen. Er stößt gegen Hindernisse wie z.B. Türen oder Stühle welche sich auf dieser Seite befinden, er isst nur eine Hälfte seines Tellers leer, rasiert sich nur eine Gesichtshälfte, überspringt beim Lesen einzelne Worte, kann Dinge die er sucht nicht oder nur schwer finden, wenn sie auf der kontraläsionalen Seite von ihm liegen. Kurz gesagt ein Neglectpatient übersieht einfach eine Seite der ihn umgebenden Welt. Neglectpatienten haben es daher schwierig sich im Alltag zurechtzufinden. Neglectpatienten reagieren selten oder gar nicht, wenn man sie von der kontraläsionären Seite her anspricht oder sie berührt, teilweise nicht einmal wenn ihnen auf der eingeschränkten Körperhälfte Schmerz zugefügt wird. Da der Neglect also in mehreren Modalitäten auftritt (visuell, auditiv und taktil) bezeichnet man ihn auch als multimodale Störung. Die Störung kann in mehreren Modalitäten auftreten, muss es aber nicht. Beim Neglect handelt es sich um eine Aufmerksamkeitsstörung, denn es ist so, als wenn der Patient dem eingeschränkten Bereich einfach keine Aufmerksamkeit schenken würde. Wenn man ihn bittet sich auf Gegenstände oder Objekte auf der vernachlässigten Seite zu konzentrieren kann er diese vorübergehend wahrnehmen, er tut dies allerdings nicht von sich aus. Ein Neglectpatient kann also normal sehen, hören und fühlen, jedoch 'bemerkt' er Reize einfach nicht, welche auf der eingeschränkten Seite liegen. Die Patienten richten ihren Blick normalerweise nur auf die Seite aus, auf der die Läsion liegt (ipsiläsionäre Seite) und schauen selten von sich aus auf die beeinträchtigte Seite. Das bedeutet, dass die meisten Neglectpatienten andauernd nach rechts schauen. Wenn sie nach einem Objekt suchen, z.B. einen Kreis, welcher auf einem Blatt mit Quadraten abgebildet ist, suchen sie zuerst auf der ipsiläsionären Seite nach ihm und blicken nur selten, wenn überhaupt auf die kontraläsionäre Seite. Dabei geht der Neglect häufig mit einer Anosognosie einher, die Patienten sind sich ihrer Einschränkung also nicht bewusst. Die meisten Neglectpatienten antworten daher, wenn man sie nach ihrer Wahrnehmung fragt, dass sie ihr gesamtes Gesichtsfeld ohne Einschränkung wahrnehmen können.

Objektbezogenheit des Neglects

Der Neglect ist je nach Situation, in der sich der Patient gerade befindet objekt-, körper oder umweltbezogen. Das bedeutet, dass je nachdem worauf sich der Patient gerade konzentriert oder worauf er gerade achtet, andere Dinge übersehen werden. Wenn der Patient durch ein Zimmer geht, wird er sich auf den Raum, welcher ihn umgibt konzentrieren und dabei Objekte und Hindernisse übersehen, welche linksseitig von ihm liegen. Wenn er allerdings eine einzelne Linie auf einem Blatt betrachtet, und diese in der Mitte durchstreichen möchte, wird er eher eine Hälfte der Linie übersehen und sie statt in der Mitte eher auf der rechten Seite durchstreichen. Der Neglect wirkt sich sogar auf Erinnerungen aus. In einem Experiment von Bisiach und Luzatti (1978)[1] wurden Neglectpatienten gebeten einen Domplatz aus ihrer Erinnerung zu beschreiben. Die Patienten sollten den Platz zwei mal beschreiben, jeweils aus einer von zwei sich gegenüberliegenden Perspektiven. Dabei stellten die Forscher fest, dass je nach Perspektive andere markante Teile des Ortes in der Beschreibung ausgelassen wurden, nämlich jeweils die Teile welche aus der Sicht der Beschreibung auf der gegenüberliegenden Seite zur Hirnschädigung lagen. Dies spricht dafür, dass die Aufmerksamkeit mit einer mentalen Repräsentation der Umwelt arbeitet, welche durch Hirnschäden beeinträchtigt werden kann.

Anatomie

Ein Neglect tritt nicht nur bei einer bestimmten Schädigung im Gehirn auf, sondern kann die Folge von Schäden an verschiedenen Orten im Gehirn sein. Jedoch liegen diese Schäden normalerweise nur in einer Hirnhälfte und beziehen sich größtenteils auf den Bereich zwischen Parietal-, Temporal- und Occipitallappen. Ein Neglect kann in seltenen Fällen auch nach einer Frontalhirnläsion auftreten. Auch subkortikale Läsionen im Putamen oder Nucleus caudatus der Basalganglien oder des Pulvinars im Thalamus können zum Neglect führen.

Auswirkungen

Die Auswirkungen auf den Alltag unterscheiden sich je nach Schweregrad der Störung. Patienten mit deutlichem Neglect zeigen beispielsweise Schwierigkeiten beim Lesen, da sie den Zeilenanfang nicht finden. Bei der Körperpflege wird die vernachlässigte Seite übergangen, z. B. beim rasieren oder schminken. Essen wird auf dem Teller zum Teil ignoriert. Im Gespräch fällt auf, dass Neglectpatienten ihren Gesprächspartner meist nicht anschauen oder nur für kurze Zeit. Bei akustischen Reizen aus der vernachlässigten Seite wenden sie ihren Kopf häufig suchend in die andere Richtung. Bei schwer betroffenen Patienten ist intensive Pflege nötig, da sie sich z .B. weder alleine anziehen, noch alleine zur Toilette gehen können.

Neuropsychologische Diagnostik

Es wurden verschiedene Verfahren entwickelt, um einen Neglect festzustellen, dazu gehören die Linienhalbierung, Such- und Durchstreichaufgaben, Nachzeichnen und Leseaufgaben. Jede Möglichkeit für sich genommen reicht nicht aus, um einen Neglect sicher angeben zu können, da die Symptome bei den Patienten unterschiedlich stark ausgeprägt sind. Führt man jedoch mehrere Tests durch kann man ein ziemlich sicheres Urteil über das Vorhandensein eines Neglects treffen.

Linienhalbierung

Dem Probanden werden horizontale Linien vorgelegt, welche er in der Mitte durchstreichen soll. Eine Verschiebung der Halbierungen zu einer Seite spricht für einen Neglect.

Such- und Durchstreichaufgaben

Der Proband erhält einen Bogen Papier auf dem verschiedene Symbole z.B. Buchstaben oder Quadrate zufällig verteilt sind. Er soll nun Objekte einer Art suchen und durchstreichen. Neglectpatienten lassen eher die Symbole auf einer Seite aus.

Kopieren oder freies Zeichnen

Der Proband wird gebeten ein Bild (z.B. ein Haus oder Tisch) nachzuzeichnen oder aus dem Gedächtnis ein Objekt aufzumalen, wie zum Beispiel eine Uhr. Neglectpatienten lassen bei ihren Zeichnungen Teile aus, normalerweise auf der kontraläsionalen Hälfte des Motivs und zeichnen so z.B. nur eine halbe Uhr.

Leseaufgaben

Hier wird der Patient gebeten einen Text vorzulesen. Neglectpatienten vergessen häufig Worte, welche am Anfang einer Zeile stehen.

Schwere Neglectstörungen bedürfen in der Regel keiner aufwendigen neuropsychologischen Diagnostik, sondern können mit etwas Erfahrung allein durch die Verhaltensbeobachtung erkannt werden. In Zweifelsfällen oder zur genauen Bestimmung des Schweregrades der Störung ist jedoch eine neuropsychologische Abklärung erforderlich.

Therapie und Verlauf

Neglect verbessert sich meist spontan, und bei ca. 65% der Patienten ist nach 15 Monaten kein Neglect mehr nachweisbar. Bei den verbliebenen 35% bleiben weitere deutliche Einschränkungen bestehen. Eine früh einsetzende Therapie kann den Neglect nachweislich verbessern. Patienten mit einem linksseitigen Neglect erholen sich generell schneller als Patienten mit einem rechtsseitigen Neglect.

Zur Behandlung des Neglects stehen mittlerweile eine ganze Reihe von Verfahren zur Verfügung: Neben visuellem Explorationstraining werden eine Vibrationstherapie der Nackenmuskeln, Alertnesstraining, optokinetische Stimulation und Prismenadaptation nach Prismenbrille angewandt. Der früher häufig gegebene Rat, Patienten mit Neglect mit der „gesunden Seite“ an eine Wand zu setzen oder im Bett zu positionieren, damit sie gezwungen sind in ihre vernachlässigte Seite zu explorieren, wird heute nicht mehr gegeben. Es hat sich gezeigt, dass zumindest schwer betroffenen Neglectpatienten die Exploration in die vernachlässigte Seite nicht gelingt und sehr unter der ihnen aufgezwungenen Lage leiden.

Es gibt verschiedene Möglichkeiten die Symptome des Neglects vorübergehend aufzuheben. Dabei hat es sich grundsätzlich bewährt, die Aktivität in der geschädigten Hirnhälfte vorübergehend zu erhöhen. So kann die Einschränkung durch den Neglect mit Hilfe von kalorischer Stimulation vorübegehend teilweise oder sogar vollständig aufgehoben werden. Bei der kalorischen Stimulation wird entweder warmes oder kaltes Wasser durch den Gehörgang im Ohr gespült. Es ist aber dabei zu bedenken, dass die Spülung des Gehörganges kurzzeitig zu Nystagmus, massivem Schwindel bis hin zum Erbrechen und sogar (in seltenen Fällen) zu epileptischen Anfällen führen kann. Auf keinen Fall sollte der Patient während der Spülung den Kopf nach vorn neigen, da die Wirkung auf das Vestibularorgan dadurch noch erhöht wird. Auch Vibrationsmassagen am Nacken haben sich als hilfreich erwiesen, die Neglectsymptome vorübergehend zu verringern.

Erklärungsmodelle

Es gibt verschiedene Theorien, welche versuchen die Phänomene des Neglects zu erklären. Aufgrund der verteilten Orte, an denen Hirnläsionen einen Neglect zur Folge haben, vermuten einige Hirnforscher, dass der Neglect ein Anzeichen dafür ist, dass Aufmerksamkeit als kognitiver Prozess an verschiedenen Stellen im Gehirn stattfindet, bzw. über mehrere Bereiche verteilt ist und daher eine Unterbrechung der Verbindungen dieser Bereiche zueinander zu Störungen in der Aufmerksamkeit führen können. Nach Kinsbourne schafft jede unserer beiden Hirnhälften einen Aufmerksamkeitsvektor, welcher die Aufmerksamkeit auf die ihr gegenüberliegende Seite der Außenwelt ausrichtet und dabei die andere Hirnhälfte unterdrückt. Beide Hirnhälften kämpfen also darum, die Aufmerksamkeit auf Objekte in ihrem gegenüberliegenden Bereich auszurichten. Wird nun eine Hirnhälfte geschädigt, so kann sie die andere Hirnhälfte nicht mehr genügend unterdrücken, und diese erhält dadurch einen Vorteil in dem Wettstreit um Aufmerksamkeit. Das häufige Auftreten von linkseitigen Neglects als Folge von rechtsseitigen Hirnläsionen hat zu der Annahme geführt, dass die Einflüsse beider Hirnhälften auf die Aufmerksamkeit nicht gleichmäßig verteilt, sondern lateralisiert sind. Die rechte Hirnhälfte habe vermutlich die Fähigkeit Aufmerksamkeit sowohl auf die linke, als auch auf die rechte Seite der Umwelt auszurichten, hingegen hat die linke Hirnhälfte nur einen Einfluss auf die rechte Seite der Umgebung. Wenn man annimmt, dass diese Theorie stimmt, dann erklärt sich der Neglect folgendermaßen: Ein (Teil-)Ausfall der linken Hemisphäre führt zu Schwierigkeiten, den rechten Teil des Gesichtsfeldes wahrzunehmen, die rechte Hirnhälfte kann diese Einschränkung allerdings zu teilweise ausgleichen. Wenn allerdings die rechte Hirnhälfte ausfällt, kann die linke ihre Funktion nicht ausgleichen und das linke Gesichtsfeld wird vernachlässigt. Posner und Mitarbeiter vermuten aufgrund der unterschiedlichen Formen von Neglect drei Hauptprozesse der Aufmerksamkeit, welche jeweils einzeln ausfallen können: 1.) Das Lösen von Aufmerksamkeit von einem Objekt (Disengagement), 2.) Das Verlagern von Aufmerksamkeit (Movement) und 3.) die erneute Zuwendung von Aufmerksamkeit auf ein neues Objekt (Engagement).


Einzelnachweise

  1. Bisiach, E. und Luzzatti, C. (1978). Unilateral Neglect of Representational Space. Cortex, 14, S. 129-133.
 
Dieser Artikel basiert auf dem Artikel Neglect aus der freien Enzyklopädie Wikipedia und steht unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation. In der Wikipedia ist eine Liste der Autoren verfügbar.
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