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Hypothese der effektiven evolutionären Zeit



Die Hypothese der effektiven evolutionären Zeit (effective evolutionary time) ist ein Ansatz von Klaus Rohde (1992), den größeren Artenreichtum in den Tropen gegenüber den gemäßigten Breiten zu erklären[1]. Rohde bezeichnete die Hypothese ursprünglich als „Zeit-Hypothese“[2][3]. Die Hypothese kann auch auf andere Gradienten im Artenreichtum angewandt werden, zum Beispiel Tiefengradienten im Meer.

Inhaltsverzeichnis

Hintergrund

In wärmeren Gebieten gibt es weitaus mehr Arten als in kälteren Breitengraden. Diese Tatsache ist für zahlreiche Tier- und Pflanzengruppen bekannt. Allerdings gibt es Ausnahmen, so besitzen zum Beispiel die Helminthen (parasitischen Würmer) von Meeressäugern die größte Diversität in nördlichen gemäßigten Breiten, möglicherweise weil die geringen Populationsdichten der Wirte in den Tropen die Entwicklung einer reichen Parasitenfauna nicht zulassen, oder weil sie in nördlichen Breiten ihren Ursprung haben und somit auch mehr Zeit zur Artenbildung. Es ist immer häufiger deutlich geworden, dass eine Korrelation von Artenzahl und Umwelttemperatur oder mehr generell „Umweltenergie“ besteht. Diese Befunde sind die Grundlage für die Hypothese der effektiven evolutionären Zeit. Die Artenzahl nimmt dort am schnellsten zu, wo die Temperaturen am höchsten sind.

Die Mutationsraten und Selektionsgeschwindigkeit sind positiv mit Temperatur korreliert. Die Generationszeiten, die die Selektionsgeschwindigkeit ebenfalls beeinflussen, sind negativ mit Temperatur korreliert. Die Folge ist eine schnellere Anhäufung von Arten in wärmeren Gegenden, die in die leeren Nischen absorbiert werden[1][4]. Da es viele leere Nischen in allen Breiten gibt, die Arten aufnehmen können, können Unterschiede in der Zahl der zur Verfügung stehenden Nischen nicht der begrenzende Faktor der Artenzahl sein.

Rohde (1992) bietet mit der „Evolutionären Zeit-Hypothese“ eine kausale Erklärung dieses latitudinalen Gradienten im Artenreichtum[1].

Historische Aspekte

Einige Aspekte der Hypothese basieren auf früheren Arbeiten anderer Autoren. So schreibt zum Beispiel Rensch 1954[5] , dass Evolutionsraten anscheinend auch von der Temperatur abhängen, weil die Zahl der Generationen pro Jahr bei Poikilothermen und manchmal auch bei Homoiothermen größer in wärmeren Gebieten ist, was die Wirksamkeit der Selektion erhöht. Ricklefs nennt diese Hypothese die „hypothesis of evolutionary speed“ oder „higher speciation rates“[6]. Die Arbeit von Stehli et al. (1969) zeigte, dass Gattungen planktonischer Foraminifera in der Kreide und Familien von Brachiopoden im Perm höhere Evolutionsraten in niedrigen als in höheren Breitengraden hatten[7]. Dass die Mutationsraten temperaturabhängig sind, ist seit den klassischen Untersuchungen Timofeeff-Ressovsky’s et al (1935) bekannt[8], obwohl kaum spätere Untersuchungen vorliegen. Auch wurden diese Befunde nicht auf evolutionäre Fragestellungen angewandt.

Die von Rohde 1992 formulierte Hypothese der effektiven evolutionären Zeit unterscheidet sich von früheren Hyothesen wie folgt: sie schlägt vor, dass Artenreichtum eine direkte Folge von temperaturabhängigen Prozessen und der Zeit ist, unter der ein Ökosystem bei relativ konstanten Bedingungen existiert hat. Temperaturabhängige Prozesse sind nicht nur Generationszeiten, sondern auch Mutationsraten und Selektionsgeschwindigkeiten in Folge beschleunigter physiologischer Prozesse bei höheren Temperaturen. Weil es zahlreiche leere Nischen in allen Breiten gibt, die neue Arten aufnehmen können, ist die Folge, dass die Tropen größere Artenzahlen besitzen. Ohne die Annahme leerer Nischen bleiben alle früheren Ansätze ohne Grundlage, da es keine überzeugenden Hinweise darauf gibt, dass Nischen in den Tropen generell enger sind als in höheren Breiten und eine derart große Artenzunahme daher nicht durch die Unterteilung bereits bestehender Nischen, sondern nur durch das Vorhandensein zahlreicher leerer Nischen erklärt werden kann[1] (siehe auch Rapoports Regel). Dies erklärt wahrscheinlich, warum frühe Hypothesen über höhere Evolutionsgeschwindigkeiten in den Tropen kaum ernsthaft als Alternativen zu den vielen Hypothesen akzeptiert wurden, die davon ausgehen, dass gewisse Faktoren eine obere Grenze für den Artenreichtum setzen. Diese Grenzen, so wurde vermutet, sind in den Tropen höher als in kälteren Breiten. In dem häufig zitierten Buch von Pianka (1974, 1983) werden solche alternativen Hypothesen nicht einmal erwähnt [9][10].

Zahlreiche neuere Untersuchungen unterstützen die Hypothese der effektiven evolutionären Zeit und sind zuletzt in Rohde „Nonequilibrium Ecology“[4] diskutiert worden. Der Artenreichtum hängt auch von der Zeit ab, während der ein Biotop oder Ökosystem unter mehr oder weniger gleichen Bedingungen existiert haben, obwohl dies wahrscheinlich für die latitudinalen Gradienten eine untergeordnete Rolle spielt. Zahlreiche weitere Faktoren sind von lokaler Bedeutung für den Artenreichtum [1][11]. Die wichtigsten sind Heterogeneität der Umwelt und Größe eines Habitats.

Neuere Untersuchungen

Einige der neueren, die Hypothese stützende Untersuchungen werden im folgenden besprochen. So hat Jablonski 1999 gezeigt, dass die Diversität des Meeresbenthos seit dem Kambrium, unterbrochen von einigen Zusammenbrüchen und Plateaus, bis heute angestiegen ist. Es gibt keine Hinweise darauf, dass eine Sättigung erreicht ist[12]. Cardillo (1999) hat gezeigt, dass relative Diversifikationsraten pro Zeiteinheit von Vögeln und Schmetterlingen zu den Tropen hin zunimmt[13]. Allen et al. (2002) fanden eine generelle Korrelation zwischen Umwelttemperatur und Artenreichtum für nord- und zentralamerikanische Bäume, für Amphibien, Fische, Prosobranchia sowie Fischparasiten. Sie zeigten, dass der Artenreichtum aufgrund der biochemischen Kinetik des Stoffwechsels vorhergesagt werden kann. Die Autoren folgern, dass Evolutionsraten durch Generationszeiten und Mutationsraten festgelegt sind. Beide Parameter sind korreliert mit Stoffwechselraten, die die gleiche Boltzmann-Relation mit Temperatur besitzen. Sie folgern weiter, dass diese Befunde die von Rohde vorgeschlagene Erklärung für latitudinale Gradienten im Artenreichtum stützen[14]. Gillooly et al. (2002) beschreiben ein generelles Modell, ebenfalls beruhend auf ersten Prinzipien der Allometrie und biochemischen Kinetik. Ihr Model macht Vorhersagen über Generationszeiten als Funktion von Körpergröße und Temperatur[15]. Empirische Befund stützen die Vorhersagen: in allen untersuchten Fällen (Vögel, Fische, Amphibien, aquatische Insekten, Zooplankton) sind Generationszeiten negativ mit Temperatur korreliert. Brown et al.(2004) haben diese Befunde zu einer allgemeinen Stoffwechseltheorie der Ökologie weiter entwickelt[16]. Bazin et al. (1997, zitiert in Harmelin-Vivien 2002) fanden indirekte Hinweise auf erhöhte Mutationsraten bei höheren Temperaturen[17][18]. Kaspari et al.(2004) schlossen, dass die Energie-Artbildungshypothese der beste Prädiktor für den Artenreichtum von Ameisen ist[19]. Schließlich zeigten Computersimulationen von Rohde und Stauffer (2005), dass das Chowdhury Ökosystem-Modell dann den empirischen Befunden am besten entsprechende Resultate gibt, wenn die Zahl leerer Nischen groß ist[20]. Für eine ausführliche Diskussion dieser und anderer Beispiele siehe Rohde (2005)[4][21].

Tiefengradienten

Der Artenreichtum in der Tiefsee wurde bis vor kurzem weit unterschätzt (z.B. Briggs 1994: totale Meeresdiversität weniger als 200 000 Arten)[22]. Obwohl unsere Kenntnisse noch sehr unvollständig sind, scheinen einige neuere Untersuchungen auf einen sehr großen Artenreichtum hinzuweisen (z.B. Grassle und Maciolek 1992: 10 Millionen Makroinvertebraten in weichen Sedimenten der Tiefsee) [23]. Weitere Untersuchungen müssen dies bestätigen[24]. Ein großer Artenreichtum in der Tiefsee ließe sich durch die Hypothese der effektiven evolutionären Zeit erklären: zwar sind Temperaturen niedrig, doch ist die Zeit, unter der Bedingungen mehr oder weniger unverändert blieben, enorm und sicherlich viel größer als in den meisten oder allen Oberflächengewässern.


Literatur

  1. a b c d e K. Rohde: Latitudinal gradients in species diversity: the search for the primary cause, Oikos, 65, 514-527,1992.
  2. K. Rohde: Latitudinal gradients in species diversity and their causes. I. A review of the hypotheses explaining the gradients. Biologisches Zentralblatt 97, 393-403, 1978a.
  3. K. Rohde: Latitudinal gradients in species diversity and their causes. II. Marine parasitological evidence for a time hypothesis. Biologisches Zentralblatt 97, 405-418, 1978b.
  4. a b c K. Rohde: Nonequilibrium Ecology, Cambridge University Press, Cambridge, 2005b, 223 pp. auf http://www.cambridge.org/9780521674553
  5. B. Rensch: Neuere Probleme der Abstammungslehre. Die transspezifische Evolution. Encke, Stuttgart, 1954.
  6. R.E. Ricklefs: Ecology. Nelson and Sons, London, 1973.
  7. F.G. Stehli, E.G. Douglas and N.D. Newell: Generation and maintenance of gradients in taxonomic diversity. Science 164, 947-949, 1969.
  8. N.W. Timofeeff-Ressovsky, K.G. Zimmer und M. Delbrück: Über die Natur der Genmutation und der Genstruktur. Nachrichten aus der Biologie der Gesellschaft der Wissenschaften Göttingen I, 189-245, 1935.
  9. E.R. Pianka: Evolutionary Ecology. Harper and Row, New York, 1974.
  10. E.R. Pianka: Evolutionary Ecology. 3.Auflage. Harper and Row, New York, 1983.
  11. K. Rohde: Latitudinal gradients in species diversity and Rapoport’s rule revisited: a review of recent work, and what can parasites teach us about the causes of the gradients?, Ecography, 22, 593-613,1999 (invited Minireview on the occasion of the 50th anniversary of the Nordic Ecological Society Oikos), Ebenfalls veröffentlicht in Fenchel, T. Hrsg. Ecology 1999-and tomorrow, pp. 73-93. Oikos Editorial Office, University Lund, Schweden
  12. D.Jablonski: The future of the fossil record, Science 284, 2114-2116, 1999.
  13. M. Cardillo: Latitude and rates of diversification in birds and butterflies. Proceedings of the Royal Society London 266, 1221-1225,1999.
  14. A.P. Allen, J.H. Brown, and J.F. Gillooly: Global biodiversity, biochemical kinetics, and the energetic-equivalence rule. Science, 297, 1545-1548, 2002.
  15. J.F. Gillooly, E.L. Charnov, G.B. West, M.Van Savage, and J.H. Brown: Effects of size and temperature on developmental time. Nature 417, 70–73, 2002.
  16. J.H. Brown, J.F. Gillooly, A.P. Allen, M. Van Savage, and G.. West,. (2004). Toward a metabolic theory of ecology. Ecology 85, 1771-1789.
  17. C. Bazin, P. Capy, D. Higuet, and T. Langin, T.: Séquences d’AND mobiles et évolution du génome. Pour Sci., Hors. Sér. Janvier 97, 106-109., 1997 (zitiert in. Harmelin-Vivien 2002).
  18. M.L. Harmelin-Vivien: Energetics and fish diversity on coral reefs. In: Sale, P.F. Hrsg. Coral reef fishes. Dynamics and diversity in a complex ecosystem. Academic Press, Amsterdam, pp. 265-274, 2002.
  19. M. Kaspari, P.S. Ward and M.Yuan: Energy gradients and the geographical distribution of local ant diversity. Oecologia 140, 407-413, 2004.
  20. K. Rohde and D. Stauffer: "Simulation of geographical trends in Chowdhury ecosystem model", Advances in Complex Systems 8, 451-464, 2005.
  21. K. Rohde: Eine neue Ökologie. Aktuelle Probleme der evolutionären Ökologie". Naturwissenschaftliche Rundschau, 58, 420-426, 2005.
  22. J. C.Briggs. Species diversity: land and sea compared. Systematic Biology 43, 130-135, 1994.
  23. J F. Grassle and N .J. Maciolek: Deepsea species richness: regional and local diversity estimates from, quantitative bottom samples. American Naturalist 139, 313-341, 1992.
  24. K. Rohde: Ecology and biogeography of marine parasites. Advances in marine biology 43,1-86, 2002.
 
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