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Evolutionär stabile Strategie



Die evolutionär stabile Strategie oder ESS (engl. "evolutionarily stable strategy") ist ein spieltheoretisches Konzept, das in der Theoretischen Biologie entwickelt wurde. Es bezeichnet in einer Population jene Verhaltensstrategie, die ihr die Überlegenheit bzw. Immunität gegenüber einem Eindringling gewährleistet. Die Tendenz jedes Lebewesens ist es, eine ESS zu erreichen; andernfalls droht ihr langfristig das Aussterben.

Wenn es einem Eindringling gelingt, sich mit seiner eigenen, fremden Strategie zu behaupten, spricht man von einer Invasion.

Die ESS geht auf die Biologen John Maynard Smith und George R. Price zurück, wurde aber in anderen Disziplinen dankbar angenommen. Es entwickelte sich um sie herum die Evolutionäre Spieltheorie.

In der Soziobiologie und in der evolutionären Psychologie gibt es mehr oder weniger kontroverse Studien, welche abwegiges bzw. asoziales menschliches Verhalten als ESS zu interpretieren versuchen. Zum Beispiel könnte mittels geeigneter Untersuchungen festgestellt werden, ob ein bestimmter Anteil Krimineller an der Gesamtbevölkerung einem ESS entsprechen würde.

Es ist wichtig, anzufügen, dass sich eine evolutionär stabile Strategie nicht nur auf das Verhalten eines Individuums bezieht. In einem weiteren Sinn könnte man auch die erbliche Ausstattung eines Lebeswesens als "Strategie" auffassen - so zum Beispiel könnte eine Pflanzenart, die schlecht an saure Böden angepasst ist, von einer anderen Art verdrängt werden, welche aus genetischen Gründen eine bessere Anpassung zeigt.

Inhaltsverzeichnis

Definition

  • x und y sind zwei verschiedene Strategien
  • xAy Reproduktionserfolg von einem Individuum mit Strategie x in einer Umwelt, in der alle anderen die Strategie y ausführen

x ist nur dann eine ESS, wenn für alle y\neq x gilt:

  1. xAx\geq yAx
  2. xAx=yAx\Rightarrow xAy>yAy

Der erste Teil der Definition ist äquivalent zum so genannten Nash-Gleichgewicht, d.h.: x ist beste Antwort auf sich selbst. Keine andere Strategie schneidet gegenüber x besser ab, als x selber. Der zweite Teil sieht vor, daß, wenn Strategie y in reiner x-Umgebung nicht eliminiert wird, da sie gleich erfolgreich ist, x in reiner y-Umgebung sich gegenüber y durchsetzen kann - somit kann die Population nicht von x nach y kippen.

"Tit for tat"

Tit-for-tat - oder auf Deutsch "Wie du mir, so ich dir" - ist eine Strategie, die in allen Fällen evolutionär stabil ist - vorausgesetzt, Individuum A trifft wiederholt auf Individuum B und kann ihn für Kooperation belohnen oder für einen geschehenen "Betrug" oder Schädigung bestrafen. Wichtig ist auch, dass A überhaupt in der Lage ist, B zukünftig wiederzuerkennen. Muss Individuum A davon ausgehen, dass es nur ein einziges Mal auf B trifft, so muss es B vorsichtshalber betrügen - denn wenn B A bei der ersten (und einzigen) Begegnung betrügen würde, kann sich A nicht rächen.

Kurz formuliert läuft "Tit-for-tat" wie folgt ab:

  • Man belohnt seinen Partner ständig, außer man wurde beim letzten Mal betrogen, worauf man ihn nun auch betrügt
  • Man darf selber mit dem betrügerischen Verhalten nicht beginnen - sonst lädt man den anderen dazu ein, selber zu betrügen. Das Vertrauen wird zerstört, was letztlich beiden schadet.

Beispiele

  • In einem Pokerclub spielen alle Spieler die Strategie X. Nun kommt ein fremder Spieler zu Besuch. Wenn seine andere Strategie Y nicht erfolgreich ist und er kein Geld gewinnt, dann ist es wahrscheinlich, dass er zur Strategie X wechselt (ESS ist wirksam). Wenn seine Y-Strategie aber gewinnbringend ist, dann wechseln alle Mitglieder von Strategie X auf Y. Y ist also die ESS; ein zweites Neumitglied mit Strategie Y würde nicht besser fahren als die jetzigen Clubmitglieder.
  • Angenommen, in Europa gäbe es eine Vogelart, die jeden Herbst nach Süden zieht. Wenn nun ein Individuum auftritt, das sich in milden Wintern dazu entscheidet, in Europa zu bleiben, dann hat es den Vorteil, dass es im Frühling schon die (Nahrungs-)Ressourcen anzapfen kann, bevor die anderen Vögel zurückkehren. Mit besseren Fettreserven im Körper ausgestattet ist das Individuum nun fähig, besser als alle anderen Nachkommen großzuziehen. Jene Vögel, die immer nach Süden ziehen, sterben langfristig aus, da sie sich schlechter fortpflanzen. Ebenso ist es für eine Vogelart von Nachteil, immer in Europa zu bleiben; der Winter könnte einmal so kalt sein, dass viele von ihnen sterben und dann die vom Süden zurückkommenden Vögel eine viel bessere Ausgangslage besitzen. Die ESS der Vogelart besteht also darin, je nach Milde des Winters in Europa zu bleiben.
  • Das Lehrbuch-Beispiel der ESS - das Habicht-Taube-Spiel: Individuen der gleichen Population werden als "Habichte" (aggressiv, stark) und "Tauben" (friedlich, ausweichend) eingeteilt. Stößt eine Taube zu einer reinen Tauben-Population, verändert sich nichts. Das gleiche gilt, wenn sich ein Habicht zu anderen Habichten gesellt. Es gibt aber vier besondere Fälle:
    • Eine Taube stößt zu Habichten: Da die Taube den Konflikten - zum Beispiel ums Futter - ausweicht und so Kraft und Körperverletzungen einspart, fährt sie eine erfolgreiche Strategie. Dazu kann sie mittels Drohgebärden Aggressivität vortäuschen und kräftesparend Habichten Ressourcen abluchsen.
    • Ein Habicht stößt zu Tauben: Die Tauben machen dem Neuankömmling Platz und überlassen ihm kampflos alle Ressourcen. Der Habicht ist erfolgreich.
    • Eine Taube oder ein Habicht stößt zu einer gemischten Population, in der Tauben und Habichte im korrekten Zahlenverhältnis (entspricht der ESS!) vorkommen. Für den Neuankömmling spielt es nun eine Rolle, ob er häufiger auf eine Taube oder auf einen Habicht treffen wird. Hat sich die Population auf die geeignete Mischung eingependelt, kann es ihr egal sein, ob sich der Eindringling als Taube oder als Habicht verhält.
    • Die sogenannte "Bürger"-Strategie (engl./franz. bourgeois) entwickelt sich zur ESS und sie ist weitgehend immun gegenüber einer unausgewogenen Habicht-Taube-Zusammensetzung der Population. Als "Bürger" gilt: Wenn man sich verteidigt, ist man ein Habicht; greift man jemanden an, verhält man sich wie eine Taube.
  • Das sogenannte Gefangenendilemma ist eine Situation, für die man eine Strategie angeben kann, die explizit einer ESS entspricht - nämlich Tit-for-tat, siehe oben.

Gegenargumente für die evolutionären Stabilität von "tit for tat"

Binmore und Samuelson argumentieren, daß eine Population, die zu 100% aus tit for tat besteht, einer Invasion von "kooperiere immer" unterlegen ist, da "kooperiere immer" im Kooperationsgleichgewicht immer das gleiche Verhalten wie tit for tat aufweist, aber einfacher ist. Wenn aber Einfachheit ein evolutionärer Vorteil ist, wird "kooperiere immer" die Strategie tit for tat verdrängen. Damit ist tit for tat keine ESS.

Eine notwendige Voraussetzung für eine ESS wäre demnach, daß es im Kooperationsgleichgewicht keinen unbenutzten Strategieast gibt, weil eine Mutation dieser Strategie, die bis auf den unbenutzten Ast identisch ist, einen evolutionären Vorteil besäße und die Ausgangsstrategie verdrängen würde.

Diese Überlegung wirft die Frage auf, ob es so etwas wie eine ESS überhaupt geben kann.

P.S.: "kooperiere immer" ist natürlich selbst keine ESS und quasi nur als Parasit in einer tit for tat Population überlebensfähig - bis Sie den "Wirt" verdrängt hat.


Literatur

  • Kenneth G. Binmore and Larry Samuelson. "Evolutionary Stability in Repeated Games Played by Finite Automata." Journal of Economic Theory, 1992, pp. 278-305.
  • Maynard Smith, John: Evolution and the Theory of Games. Cambridge [u.a.]: Cambridge Univ. Press, 1982.
  • Hofbauer, Sigmund: Evolutionary Games and Population Dynamics" ,Cambridge Univ. Press, ISBN-10: 052162570X
  • Krebs, John R.: Einführung in die Verhaltensökologie. Berlin [etc.]: Blackwell Wissenschafts-Verlag, 1996.
 
Dieser Artikel basiert auf dem Artikel Evolutionär_stabile_Strategie aus der freien Enzyklopädie Wikipedia und steht unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation. In der Wikipedia ist eine Liste der Autoren verfügbar.
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