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Mailänder Kongress von 1880



Als Mailänder Kongress wird in den Kreisen von Gehörlosen der „Zweite internationale Taubstummen-Lehrer-Kongress“ bezeichnet, der im September 1880 in Mailand durchgeführt wurde. Die Beschlüsse dieses Kongresses hatten weitreichende, weltweite und nahezu ein Jahrhundert lang anhaltende und überwiegend negativ empfundene Folgen für das soziale Leben der Gehörlosen.

Inhaltsverzeichnis

Hintergrund

Gemäß dem Beschluss des „Pariser Congreß zur Verbesserung des Loses der Taubstummen“ vom 30. September 1878 wurde der Zweite internationale Taubstummen-Lehrer-Kongress in Italien vom 6. bis 11. September 1880 durchgeführt, jedoch in Mailand statt wie ursprünglich beschlossen in Como.

Organisation

Für das Organisations-Komitee waren vorgesehen: als Ehrenmitglieder Isaac und Eugène Pereire (Paris), als Ehrenpräsident L. Vaïsse (Paris), als Präsident E. Rigaut (Paris), als Vize-Präsidenten Abbé Lambert und E. Grosselin (Paris) und als Sekretäre La Rochelle (Paris) und J. Hugentobler (Lyon) sowie 18 weitere Mitglieder und „correspondierende Mitglieder“ aus Frankreich, Schweden, Italien, der Schweiz, Österreich, Deutschland, den Niederlanden, England und den USA.

Taube Lehrkräfte waren weder für das Organisationskommitte noch als Mitglieder zum Kongress eingeladen.

F. Rigaut trat jedoch vorzeitig zurück und wurde von Eugène Pereire, dem Enkel von Jacob Rodrigues Pereira als Präsident ersetzt.

Für den Kongress wurden vom „Lombardischen Institut für Künste und Wissenschaften“ die Räumlichkeiten im Brerá-Palast zur Verfügung gestellt.

Programm

Als „Einzelne Fragen aus dem Programm“ werden angekündigt:

  1. Welches sind die wesentlichsten Vorzüge der Lautsprache der Geberdensprache [sic] gegenüber, oder umgekehrt?
  2. Welches sind die prinzipiellen Unterschiede zwischen den Bezeichnungen reine Lautsprache (méthode orale pure) und gemischte Methode (méthode mixte)?
  3. Wo ist die Grenze zwischen der natürlichen und der methodischen Geberdesprache [sic]?
  4. Verlernen die aus der Schule entlassenen Taubstummen das Sprechen wieder, oder ziehen sie im gewöhnlichen Verkehre mit den Hörenden etwa die Zeichensprache der Lautsprache vor? Wenn solche Erscheinungen auftreten, worin liegt ihr Grund?
  5. Wo und inwiefern können Taubstumme klassische Studien machen, oder wie wird ihnen der Unterricht höherer Lehranstalten zugänglich? Ist es in einer oberen Abtheilung der Taubst.-Schule, oder in einem besonders für sie geschaffenen Institute; und sind hierbei die ordentlichen Taubst.-Lehrer oder aber Lehrer und Professoren der gewöhnlichen secundären Lehranstalten zu verwerthen?

Aus: „Organ 1880, Nr. 1, S.26/27“ zitiert nach Wolfgang Vater, „Bedeutungsaspekte des Mailänder Kongresses von 1880“

Durchführung

Der spätere Kongressbericht im „Organ“, Nr. 11. und Nr. 12/1880 gibt als behandelte Fragen und Beschlüsse folgendes wieder:

Frage 1:
„Welches sind die wesentlichsten Vorzüge der Lautsprache der Gebärdensprache gegenüber, oder umgekehrt?“

Resolution: (Gegenstimmen von USA und Schweden)
"In der Überzeugung der unbestrittenen Überlegenheit der Lautsprache gegenüber der Gebärdensprache,

  1. insofern jene die Taubstummen dem Verkehr mit der hörenden Welt wiedergibt und
  2. ihnen ein tieferes Eindringen in den Geist der Sprache ermöglicht,

erklärt der Kongress: daß die Anwendung der Lautsprache bei dem Unterricht und in der Erziehung der Taubstummen der Gebärdensprache vorzuziehen sei.

Exkurs: Stimmungsbild nach der Proklamierung
„Nach der Proklamierung dieser These entwickelte sich eine Szene, welche dem Nordländer ebenso neu als interessant war. Die ganze Versammlung brach unter lebhaftem Beifallsklatshen in den freudigen Ruf aus: „Vive la parole, vive la méthode d'articu-tion“; man beglückwünschte sich wie nach einem gewonnenen Siege und gab seiner Freude in der mannigfachsten Weise ungezwungen Ausdruck, so daß man unwillkürlich davon erwärmt und mitgerissen wurde. Und in der Tat ist dieses Resultat auch ein großer Sieg auf dem Gebiete der Humanität und der Pädagogik, dessen Wichtigkeit und weitumfassende Bedeutung nicht kräftig genug hervorgehoben werden kann. Wenn hier auch keine Gesetze und Verordnungen aufgestellt wurden und selbstverständlich auch nicht aufgestellt werden konnten, so bezeichnet doch diese Stunde, in welcher die mitgeteilte These unter dem Jubel der Anwesenden proklamiert wurde, unstreitig einen wichtigen Merkstein in der Geschichte der Taubstummenbildung, welcher für die außerdeutschen Länder zum Teil neue Bahnen gewiesen wurden. Auch für Deutschland wird hoffentlich dieser weihevolle Moment nicht ohne Segen bleiben, denn er wird ohne Zweifel der dortigen unterrichtlichen Arbeit neue Impulse geben und die letzten Reste von Halbheit und Einseitigkeit austilgen helfen.“

Frage 2:
„Welches sind die prinzipiellen Unterschiede zwischen den Bezeichnungen reine Lautsprache (méthode orale pure) und gemischter Methode (méthode mixte)?“
Frage 3:
„Wo ist die Grenze zwischen der natürlichen und der methodischen Gebärdensprache?“

Resolution: Frage 2 und 3 wurde zusammengefasst.
„In Erwägung, daß die gleichzeitige Anwendung der Gebärdensprache und des ge-sprochenen Wortes den Nachteil mit sich führt, daß dadurch das Sprechen, das Ab-lesen von den Lippen und die Klarheit der Begriffe beeinträchtigt wird, ist der Kon-greß der Ansicht: daß die reine Artikulations-Methode vorzuziehen sei.“

Frage 4:
„Welches sind die geeigneten Mittel und Wege, um den Taubstummen möglichst schnell mit der Umgangssprache vertraut zu machen?“

Resolution:
„In Erwägung, daß der Unterricht der Taubstummen durch die Wortsprache erteilt werden muß, spricht sich der Kongress dahingehend aus:

  1. daß als wirksamstes Mittel, den sprechenden Taubstummen in den Besitz der Umgangssprache zu setzen, die anschauliche Methode anzuwenden sei, welche darin besteht, zuerst durch das Wort, dann durch die Schrift die Gegenstände und Handlungen zu bezeichnen, welche den Schülern vor Augen geführt worden sind;
  2. daß man auf den unteren Stufen den Taubstummen zur Beachtung der grammatischen Formen nur durch Beispiele und praktische Übungen führen und auf der oberen Stufe zur Erreichung dieses Zieles grammatische Regeln hinzufügen muß, jedoch unter Beobachtung größter Einfachheit und möglichster Klarheit.“

Frage 5:
„Verlernen die aus der Schule entlassenen Taubstummen das Sprechen wieder, oder ziehen sie im gewöhnlichen Verkehre mit den Hörenden etwa die Zeichensprache der Lautsprache vor? Wenn solche Erscheinungen auftreten, worin liegt der Grund?“

Resolution:
„In Anbetracht der Resultate, welche sich bei zahlreichen an jüngst aus der Schule ausgetretenen Taubstummen jedes Alters und verschiedener Lebensverhältnisse gemachten Versuchen herausgestellt haben, indem sie auf Fragen über die verschiedensten Gegenstände mit Sicherheit und genügender Deutlichkeit antworteten und mit sehr grosser Gewandtheit von den Lippen anderer ablasen, erklärt der Kongress:

  1. dass die durch reine Artikulationsmethode unterrichteten Taubstummen nach ihrem Austritt aus der Schule die erworbenen Kenntnisse nicht vergessen, sondern dieselben vielmehr durch den mündlichen Verkehr mit anderen und durch Lektüre weiter entwickeln;
  2. dass sie in ihrem Verkehr mit Vollsinnigen sich ausschließlich der Lautsprache bedienen;
  3. dass die Fähigkeit des Sprechens und Ablesen von den Lippen ihnen keineswegs verloren geht, sondern sich vielmehr durch den Gebrauch zu grösserer Fertigkeit ausbildet.“

Frage 6:
„Wo und inwiefern können Taubstumme klassische Studien machen, oder wie wird ihnen der Unterricht höherer Lehranstalten zugänglich? Ist es in einer oberen Abteilung der Taubst.-Schule, oder in einem besonders für sie geschaffenen Institute; und sind hierbei die ordentlichen Taubst.-Lehrer oder aber Lehrer und Professoren der gewöhnlichen secundären Lehranstalten zu verwerten?“

Resolution:
„In der Erwägung, dass eine grosse Anzahl Taubstummer der Wohltat des Unterrichts aus dem Grunde entbehrt, weil den Familien und den Instituten nicht die nötigen Mittel zu Gebote stehen, spricht der Kongress den Wunsch aus, dass die Regierungen die nötigen Veranstaltungen treffen mögen, dass alle Taubstummen ausreichenden Unterricht erhalten.“

Weitere Erklärungen und Ansichten des Kongresses:
„Der Kongress ist der Ansicht, dass die Bücher, welche dem Verständnis der Taubstummen zugänglich sind, jederzeit in ihre Hände gegeben werden können.“ „In der Erwägung der besonderen Schwierigkeiten des Unterrichts der Taubstummen nach der Artikulationsmethode und gestützt auf die nach dieser Seite hin fast allen Taubstummenlehrer gemachte Erfahrung erklärt der Kongress:

  1. dass das günstigste Alter für den Eintritt taubstummer Kinder in die Schule die Zeit vom 8. bis 10. Lebensjahr ist;
  2. dass der Schulbesuch wenigstens 7, besser 8 Jahre dauern muss;
  3. . dass ein Lehrer nach der reinen Artikulationsmethode nicht mehr als 10 Schüler unterrichten kann.

In der Erwägung, dass in Anstalten, in welchen die reine Artikulationsmethode bis dahin nicht in Anwendung gewesen ist, die Einführung derselben in kluger Berechnung nur stufenweise und allmälig vorgenommen werden darf, ist der Kongress der Ansicht:

  1. dass die neu eintretenden Schüler eine besondere Klasse bilden, in welcher der Unterricht nach der Artikulationsmethode erteilt wird;
  2. dass diese Schüler von den anderen Taubstummen, welche schon zu weit vorgeschritten sind, um nach der Artikulationsmethode unterrichtet zu werden, deren Ausbildung deshalb durch die Gebärdensprache vollendet werden muß, durchaus zu trennen sind;
  3. dass jedes Jahr eine neue Klasse nach der Artikulationsmethode einzurichten ist, bis alle älteren Schüler, welche durch die Gebärdensprache unterrichtet werden, ihre Bildung vollendet haben.“


Kommentar zu den Beschlüssen

Diese Beschlüsse des Kongresses werden aus heutiger Sicht wie folgt kommentiert:

  • Die vorgenannten Resolutionen, Erklärungen, Ansichten sind das Ergebnis einer berufsständischen Versammlung und besitzen demnach keinen Gesetzescharakter.
  • in den „Taubstummenanstalten“ vor und bis nach der Jahrhundertwende wurden alle Hörgeschädigten (Gehörlose, Resthörige, Schwerhörige und teilweise auch Sprachbehinderte) gemeinsam unterrichtet. Eine umfassende methodische Differenzierung ist bis dahin nicht oder nur rudimentär vollzogen worden.
  • Eine zahlenmäßig kleine Gruppe von Kongressmitgliedern (USA, Schweden) die diesen Resolutionen nicht zustimmte, führte folgende Gründe ihrer Ablehnung an:
    • Lautsprachlicher Unterricht hat nur bei „Halbtauben“ Erfolg.
    • Lautsprachlicher Unterricht verlangsamt und vernachläßigt die geistige Bildung der Taubstummen.
    • Lautsprachlicher Unterricht bringt eine unnatürlich klingende Kunstsprache hervor.
    • Lautsprachlicher Unterricht ist teuerer.
    • Der Methodenstreit trägt nationalistische Züge und ist daher abzulehnen.
  • Eine allumfassende und absolute Ablehnung des Gebärdensprachgebrauchs ist nur partiell erfolgt.
  • Die Resolutionen sind im historischen Kontext zu sehen.
    • Aufkommen übergreifender nationaler Bestrebungen in den Staaten Europas
    • Gesprochene und geschriebene Sprache als Faktor im sich abgrenzenden Nationaldenkens
    • Bevölkerungsverdichtung im ausgehenden 19. Jahrhundert
    • Aufkommen der sozialen Frage.

zitiert nach Wolfgang Vater, „Bedeutungsaspekte des Mailänder Kongresses von 1880“

Da Taube Lehrkräfte weder für das Organisationskommitte noch als Mitglieder zum Kongress eingeladen waren, würden sämtliche Beschlüsse ohne den Einbezug der „tauben“ Perspektive gefasst.

Die Folgen der Beschlüsse

Frankreich

Der Minister des Innern von Frankreich erließ auf Empfehlung der französischen Kongressteilnehmer am 3. September 1884 ein Rundschreiben, das besagte:

  • Hierin wird die Lautsprachmethode als die allein gültige für die Schulen (staatlichen) Frankreichs erklärt und für die dortigen Fachleute zugleich Spezialexamen 1. und 2. Grades eingeführt.
  • Die Zahl der Gehörlosenlehrer wurde insgesamt erhöht,
  • die gehörlosen Lehrer wurden durch hörende ersetzt.
  • Alle notwendigen Ausgaben hierfür wurden im Etat eingestellt.

Deutschland

Auf dem ersten Deutschen Taubstummenlehrer Kongress in Berlin, am 26. September 1884, vertrat Dr. Karl Schneider, der von 1879 bis 1899 dem Taubstummenbildungswesen im Preussischen Unterrichtsministerium vorstand, die Meinung: „Daß nicht vergeblich gearbeitet worden ist, zeigt, daß gegenwärtig in 96 deutschen Anstalten nach der reinen Lautsprachmethode von Angesicht zu Angesicht gesprochen wird. Die Gebärde zieht sich nach einem hundertjährigen Kampf immer mehr zurück. ... Ein Rückschritt ist nicht mehr möglich... Doch müssen wir uns bewußt werden, daß wir noch viel zu arbeiten haben, um dem deutschen Namen Ehre zu machen. Sie wissen, welche Mühe unser Kanzler hat, den Sieg von Sedan zu erhalten. Den Mailänder Sieg zu behaupten, erfordert von uns noch eine Riesenarbeit.“
Aus: „Geschichte des Taubstummenwesens“, P. Schumann, Verlag Moritz Diesterweg, Ffm., 1940.

Auf dem Kongress zu Köln 1889 war zu hören: „Wir können nicht mehr zurück, wir haben das deutsche Artikulationssystem angenommen, wir müssen die Lautsprache zu Ehre bringen.“

Paul Schumann schreibt dazu in seiner „Geschichte des Taubstummenwesens“ Ffm. 1940, Seite 409: „Als auf dem Internationalen Kongress von Mailand nach langen Verhandlungen sich die Taubstummenlehrer aus sieben Kulturstaaten der Erde fast einstimmig nicht nur zur Lautsprachmethode, sondern zur reinen Artikulationsmethode, méthode orale pure, unter Ausschluß der Gebärde bekannten - nur von seiten der Amerikaner und des Schweden Eckborn machte sich Widerspruch geltend - wurde dies zunächst als „ein großer Sieg auf dem Gebiete der Humanität und der Pädagogik empfunden, dessen Wichtigkeit und weitumfassende Bedeutung nicht kräftig genug hervorgehoben werden kann“ (Dr. Treibel) In Wirklichkeit war der Taubstummenbildung damit eine Aufgabe gestellt, zu deren Erfüllung nur an wenigen Plätzen die Mittel und Kräfte gegeben waren, ganz abgesehen davon, ob sie überhaupt richtig gestellt und lösenswert war.“

zitiert nach Wolfgang Vater, "Bedeutungsaspekte des Mailänder Kongresses von 1880"

Weitere historische Hintergründe siehe auch: Geschichte der Gehörlosen

 
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