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Lyssenkoismus



Der Lyssenkoismus war in der Sowjetunion ein Feldzug gegen die Genetik sowie gegen jene Biologen, die sich mit dieser Disziplin befassten. Diese Ära dauerte von den 1930er Jahren bis zu den 1960ern, und der „Biologe“ und ehemalige Bauer Trofim Denissowitsch Lyssenko spielte dabei eine zentrale Rolle.

Wer den Begriff heute benutzt, meint im breiteren Kontext die Kontrolle der Politik über die Wissenschaft. Während jener Zeit in der UdSSR durften die Wissenschafter nur das tun, was explizit von der Führung erwünscht wurde. Philosophen wie der Amerikaner Carl Sagan vergleichen das Bestreben gewisser Kreise, den Kreationismus in die Lehrpläne der US-Schulen einzuführen, mit einer Vorstufe des Lyssenkoismus, da die konservativen Politiker den Schulen vorschrieben, was wissenschaftliche Tatsache sei.

Inhaltsverzeichnis

Lyssenkos Aufstieg

Als Lyssenko seine Arbeit in den 1930ern begann, befand sich die Landwirtschaft der Sowjetunion in einer schweren Krise. Die Kollektivierung der Bauernhöfe führte zu massiven Einbußen in der Getreideproduktion. Durch die Kollektivierung litt zunächst die Effizienz. Zudem lief sie gewaltsam ab – Hunderttausende wurden als „Kulaken“ deportiert – was den Widerstand der Bauern noch erhöhte. In der Ukraine, dem Heimatland Lyssenkos, herrschte eine Hungersnot, die Millionen von Menschen das Leben kostete. Diese Hungersnot wird auch als Holodomor bezeichnet.

Zur gleichen Zeit gab es allerdings nur wenige Agronomen, die bereit waren, mitzuhelfen, mit ihrer Arbeit die Erträge der jüngst kollektivierten Betriebe zu erhöhen. Viele dieser Fachleute waren vor der Revolution ausgebildet worden, und viele der jüngeren Agronomen waren mit der Kollektivierung und deren Folgen ebenfalls nicht einverstanden. Dazu kam, dass die Biologen jener Zeit sich mit der Genetik der Drosophila melanogaster beschäftigten, also der Fruchtfliege, die mit ihrem relativ einfachen Genom ein ideales Studienobjekt abgab, um die Vererbung zu erforschen. Die Kenntnis der „Mendel'schen Gesetze“ (heute: Mendel'sche Regeln) hatte erst später einen positiven Einfluss auf die Effizienz der Landwirtschaft (gezielte Züchtung von ertragsreichen Getreideformen), und während der Hungersnöte der 20er und 30er Jahre war es ein leichtes Spiel für Radikale wie Lyssenko, die Biologen zu verurteilen - weil sie sich mit „unnützen“ Fliegen abgaben, anstatt sich um die Landwirtschaft zu kümmern.

Im Jahre 1928 „erfand“ der vorher unbekannte Agronom Trofim Lyssenko eine neue landwirtschaftliche Arbeitstechnik, nämlich die Vernalisation, welche Feuchtigkeit und tiefe Temperaturen einsetzt, um Weizen schon im Frühling aussäen zu können. Er versprach durch diese „Erfindung“ dreifache oder sogar vierfache Ernten. Allerdings war diese Technik weder neu - sie ist schon seit 1854 bekannt und wurde in den zwanzig Jahren vor Lyssenko intensiv studiert - noch war sie nützlich.

Die sowjetischen Massenmedien stellten ihn als ein Genie dar, das die Landwirtschaft revolutionierte. Die Propaganda liebte es, Geschichten von einfachen Bauern groß heraus zu bringen, die durch ihre Geschicklichkeit und Erfahrung praktische Probleme lösten. Lyssenko genoss diese Aufmerksamkeit der Medien und nutzte sie, um Genetiker anzuschwärzen und seine eigenen Ideen zu verbreiten. Wo er sich in der Fachwissenschaft nicht durchsetzen konnte, half ihm die Propaganda: Lyssenkos Erfolge wurden übertrieben und die Misserfolge totgeschwiegen. Er führte selten kontrollierte Experimente durch, denn hauptsächlich verließ er sich auf Fragebögen von Bauern, mit denen er „bewies“, dass die Vernalisation die Weizenerträge um 15% erhöhen würde.

Lyssenkos politischer Erfolg beruhte erheblich auf seiner Herkunft als Bauernkind. Die meisten Biologen stammten aus dem Bürgertum, und das war seit der Oktoberrevolution ideologisch suspekt. Arbeiter und Bauern sollten jetzt die herrschende Schicht stellen. Obendrein war Lyssenko begeisterter Anhänger der Sowjetunion.

Lyssenko hatte auch schnell „Lösungen“ für aktuelle Probleme parat. Wann immer die Kommunistische Partei gerade entschieden hatte, eine neue Getreidesorte zu verwenden oder neues Agrarland zu erschließen - Lyssenko tauchte mit praktischen Ratschlägen auf. Er entwickelte seine Ideen - die Vernalisation, das Blätterabschneiden bei Baumwollpflanzen, die gruppenweise Anpflanzung von Bäumen bis hin zu merkwürdigen Düngermischungen – in einem so hohen Tempo, dass die akademischen Wissenschaftler kaum Zeit hatten, diese unnützen und oftmals gefährlichen Irrlehren zu widerlegen.

Konsequenzen für die Sowjetunion und die Wissenschaft

Die staatliche Presse applaudierte Lyssenkos „praktischen Fortschritten“ und zog die Motive seiner Kritiker in Zweifel. Schließlich wurde er von Stalin zu seinem persönlichen Landwirtschaftsberater ernannt - eine Position, die Lyssenko dafür nutzte, Biologen als „Fliegen-Liebhaber und Menschenhasser“ zu denunzieren. Außerdem setzte er die Hetze gegen „Saboteure“ fort, die angeblich vorhatten, die Wirtschaft der UdSSR zu ruinieren [1]. Er bestritt auch jeden Unterschied zwischen theoretischer und praktischer Biologie.

Die Missernten der sowjetischen Landwirtschaft in den 1930er Jahren lagen daran, dass viele Bauern die Kollektivierungspolitik ablehnten. Lyssenkos Methoden boten einen Weg, den Bauern aktiv am Ernteerfolg und an der „Landwirtschaftsrevolution“ teilnehmen zu lassen. Für die Parteifunktionäre war ein Bauer, der - für welchen Zweck auch immer - Getreide ansäte, ein Schritt in die richtige Richtung und auch ein Schritt weg von der verbreiteten Praxis, Getreide zu zerstören, um es nicht dem Staat zu überlassen. Die akademischen Wissenschaftler dagegen konnten keine einfachen oder sofort einsetzbaren Neuerungen vorschlagen, und so geriet die Scharlatanerie Lyssenkos bei der kommunistischen Partei in einen guten Ruf. Dieser gute Ruf breitete sich über die Grenzen der Sowjetunion zu anderen kommunistischen Parteien aus, wo Lyssenkos Thesen zeitweise herrschende Doktrin wurden.

Eine eigene Wissenschaft Lyssenkos existierte niemals. Er kopierte die Ideen Iwan Mitschurins und wendete eine Art Lamarckismus an. Die Pflanzen, so Lyssenko, wechselten ihre Gestalt durch Hybridisierung, Pfropfung und andere nicht-genetische Techniken. Es wird oft angenommen, dass Lyssenkos Erfolg in der Sowjetunion darauf beruhte, dass nach kommunistischer Doktrin erbliche Einflüsse mit der menschlichen Entwicklung nichts zu tun hätten. Dies ist aber nicht exakt so: er übertrug seine Modelle nie auf die Humanbiologie, sondern beschränkte sie streng auf Pflanzen. Vorstellungen, wie Erblichkeit oder Eugenik sah er als bourgeoisen Einfluss auf die Wissenschaft.

Der Lyssenkoismus wird oft mit einer „links gerichteten“ Wissenschaftsform verwechselt, obwohl die Kommunisten gerne „faschistische“ oder „bourgeoise“ Einflüsse aus der Lehrmeinung tilgten. Der Lyssenkoismus war genauso wie die Japhetitentheorie Nikolai Jakowlewitsch Marrs in der Linguistik ein Auswuchs des Umstandes, dass eine pseudowissenschaftliche These aus ideologischen Gründen gefördert wird.

Verfolgung der Wissenschaftler

Zwischen 1934 und 1940 wurden unter Lyssenkos Aufsicht und mit Stalins Genehmigung viele Genetiker hingerichtet oder in den Gulag geschickt. Der bekannteste Genetiker der Sowjetunion, Nikolai Wawilow, wurde 1940 verhaftet und starb drei Jahre später im Gefängnis. Genetik wurde als eine „faschistische und bourgeoise Wissenschaft“ bezeichnet. Hier zeichnet sich eine Parallele zu der unter den Nationalsozialisten als „jüdisch“ verfolgten Relativitätstheorie ab, die durch eine „Deutsche Physik“ ersetzt werden sollte. 1948 wurde die Genetik schließlich offiziell zur „bourgeoisen Pseudowissenschaft“ erklärt - daraufhin wurden alle Genetiker entlassen (oder eingesperrt). Noch Chruschtschow schätzte Lyssenko anfangs als einen großen Wissenschaftler, und auf der Genetik lag lange ein Tabu. Erst in der Mitte der 1960er Jahre wurde die offizielle Position zur Genetik widerrufen und die Genetiker rehabilitiert. Der Lyssenkoismus hielt sich in der Volksrepublik China, wo er teilweise bis in die unmittelbare Gegenwart verfochten wird.

Einzelnachweise

  1. Sabotage war ein Straftatbestand in der Sowjetunion, siehe [1]

Literatur

  • Johann-Peter Regelmann: Die Geschichte des Lyssenkoismus. Rita G. Fischer Verlag Frankfurt (Main) 1980.
 
Dieser Artikel basiert auf dem Artikel Lyssenkoismus aus der freien Enzyklopädie Wikipedia und steht unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation. In der Wikipedia ist eine Liste der Autoren verfügbar.
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