Soll ein Gen-Test entscheiden, ob eine Chemotherapie sinnvoll ist?

Neue Leitlinien und Ratgeber zu Gen-Tests bei Brustkrebs

19.12.2017 - Deutschland

(dpa) Welche der rund 75.000 Frauen, die jährlich in Deutschland an Brustkrebs erkranken, können nach der Tumoroperation auf die Strapazen einer Chemotherapie verzichten? Um das zu entscheiden, sehen sich Mediziner bestimmte Merkmale wie die Zahl betroffener Lymphknoten, die Tumorgröße und Gewebebesonderheiten an. Seit einigen Jahren gibt es eine zusätzliche Entscheidungshilfe: sogenannte Genexpressions-Tests, die die Aktivität von Genen im Tumorgewebe messen.

PublicDomainPictures, pixabay.com, CC0

Symbolbild

Mehrere dieser Tests sind seit einigen Jahren in Deutschland auf dem Markt. Die Kosten werden über verschiedene Modelle und Kassen teilweise übernommen. Über eine Regelung für alle gesetzlich versicherte Frauen will der sogenannte Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) in Berlin im kommenden Jahr entscheiden.

Die Deutsche Krebsgesellschaft geht in ihren gerade veröffentlichten neuen Onkologie-Leitlinie für Ärzte erstmals auch auf die Gen-Tests ein. Diese spielten eine «zunehmend wichtige Rolle» neben den klassischen Prognosefaktoren, so die Einschätzung. «In den Leitlinien wird ein Einsatz in ausgewählten Situationen befürwortet», erklärt Achim Wöckel, Direktor der Frauenklinik am Universitätsklinikum Würzburg.

Der sogenannten S3-Leitlinie zufolge kann ein Test bei Patientinnen sinnvoll sein, bei denen eine sichere klinische Entscheidung über das weitere Vorgehen nach der Berücksichtigung aller anderen standardmäßig genutzten Parameter und Marker nicht möglich ist.

Damit kommen die beteiligten Fachleute und Organisationen zu einem anderen Ergebnis als das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) in Köln, dessen Gutachten dem G-BA als Grundlage für die Entscheidung zur Erstattung dient. Gen-Tests brächten nach derzeitigem Stand keinen klaren Erkenntnisgewinn bei der Entscheidung für oder gegen eine Chemotherapie, lautete die vor einem Jahr präsentierte Einschätzung des IQWiG. Ob es einen Mehrwert gebe, könne erst mit den Ergebnissen noch laufender Studien beurteilt werden.

Weil die Tests trotz dieser Einschränkung «von Gynäkologen und Onkologen schon breit eingesetzt und von Herstellern beworben» werden, veröffentlichte das IQWiG in der vergangenen Woche eine Entscheidungshilfe für Patientinnen in Deutschland. Sie richtet sich an Frauen mit frühem Brustkrebs, bei denen sich keine klare Empfehlung für oder gegen eine Chemotherapie nach der Operation geben lasse. Für rund 20.000 Patientinnen jährlich ergäben die herkömmlichen Kriterien ein widersprüchliches Bild.

«Die Hersteller der Biomarker-Tests versprechen, jene Patientinnen besser erkennen zu können, die auf eine Chemotherapie verzichten können», hieß es von dem Institut. Durch aussagekräftige Studien belegt sei das keineswegs. «Die Art und Weise, wie die Ergebnisse der Biomarker-Tests kommuniziert werden, spiegelt leicht eine Sicherheit vor, die in Wahrheit nicht existiert.»

Ursache der unterschiedlichen Einschätzung in der neuen Leitlinie und des IQWiG sei, dass das Institut Studien nicht berücksichtigt habe, die in die Bewertung für die Leitlinie mit eingeflossen seien, erklärt Wöckel. Klar werde aber auch dort, dass ein breiter Einsatz nicht als sinnvoll erachtet werde und dass zunächst unbedingt auf andere klinische Parameter zu achten sei.

Die Aussagekraft bisheriger Studien zu Gen-Tests sei unter anderem so schwach, weil der Nachbeobachtungszeitraum mit fünf Jahren sehr kurz sei, sagt Wöckel. Rückfälle (Rezidive) und Metastasen träten bei Brustkrebs häufig erst nach 10 bis 15 Jahren auf. «Es sind Langzeituntersuchungen und Studien mit einer großen Zahl von Frauen notwendig.» Auch in der S3-Leitlinie wird betont: «Wichtig ist, dass alle Experten einen dringenden Forschungsbedarf für die weitere Untersuchung und klinische Validierung von Genexpressionstests sehen.»

Lässt ein Test darauf schließen, dass kein Risiko für ein Rezidiv oder Metastasen besteht und der Krebs kehrt doch zurück, sind die Folgen für die Frau weitaus größer als bei einer vielleicht unnötig durchgestandenen Chemotherapie. Dabei wird mit Wirkstoffen versucht, Mikrometastasen ausschalten und eine Wiederkehr des Krebses zu verhindern.

Es gibt laut IQWiG Schätzungen, wonach etwa zwei bis drei Prozent der Chemotherapien zu Schäden an Herz, Nieren oder anderen inneren Organen führen, bis hin zum Tod. Wöckel weist ergänzend auf die Psyche als Faktor hin: «Viele Frauen fühlen sich erst richtig krebskrank, wenn sie eine Chemotherapie durchlaufen.» Die Behandlung gehe mit Haarausfall, Müdigkeit und oft noch immer auch mit einer Stigmatisierung durch andere einher. «Langfristig allerdings schadet eine Chemotherapie wohl nur selten.»

Bei den Patientinnen herrsche derzeit oft große Unsicherheit, sagt Wöckel. «Manche denken, ihnen wird mit einem Test etwas angedreht, andere fürchten, ihnen werde ohne Test etwas vorenthalten.» Viel Aufklärungsarbeit sei nötig. Weder bei den Frauen noch bei den Ärzten dürfe das Gefühl entstehen, dass ein Biomarker-Test nötig sei, um gut entscheiden zu können. «Das ist ganz klar nicht so», betont der Mediziner. «So ein Test kann nur ein Beitrag von vielen für eine Entscheidung sein, eine Hilfe unter vielen.»

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